Atomar inspiriert
Ausgehend von der Existenz von Molekülen und Atomen entwickelte Diderik van der Waals vor 150 Jahren seine Zustandsgleichung für reale Gase.
Am 14. Juni 1873 verteidigte der 36-Jährige Johannes Diderik van der Waals seine Dissertation an der Universität Leiden. In seiner Arbeit mit dem Titel „Über die Kontinuität des gasförmigen und flüssigen Zustandes“ leitete er die Zustandsgleichung für reale Gase her, die heute seinen Namen trägt. 37 Jahre später sollte er dafür den Physik-Nobelpreis erhalten.
Die Dissertation des Niederländers fiel dem schottischen Physiker und „Vater der kinetischen Gastheorie“ James Clerk Maxwell auf. Maxwell war zwei Jahre zuvor als erster auf die Cavendish Professur für Physik in Cambridge berufen worden. Für die Zeitschrift „Nature“ fasste er 1874 herausragende Arbeiten aus seinem Fachgebiet zusammen. Was Maxwell besonders interessierte, war, dass die Van-der-Waals-Gleichung das dynamische Gleichgewicht zwischen einer Flüssigkeit und ihrem Gas beschreiben konnte.
Van der Waals hatte die Zustandsgleichung für ideale Gase, die näherungsweise das Verhalten stark verdünnter Gase beschreibt, um zwei Eigenschaften realer Gase erweitert. Er ging von der damals noch umstrittenen Atomhypothese aus und berücksichtigte die gegenseitige Anziehung der Gas-Moleküle sowie deren Eigenvolumen. Beide Faktoren gewinnen an Einfluss, wenn ein Gas komprimiert wird und erklären, warum es sich schließlich am kritischen Punkt verflüssigt. Umgekehrt zeigte van der Waals, dass dieselben physikalischen Gesetze auch für verdampfende Flüssigkeiten gelten.
Maxwell lobte den frisch promovierten Kollegen: „Indem van der Waals sich auf dieses wichtige Forschungsfeld begibt, hat er gezeigt, dass er dessen Bedeutung für die gegenwärtige Wissenschaft erkannt hat. Viele seiner Untersuchungen sind originell und in einer klaren Weise ausgeführt. Und er entwickelt ständig neue und anregende Ideen. Es besteht also kein Zweifel daran, dass sein Name bald unter den ersten in der molekularen Wissenschaft genannt werden wird.“
Mit der Anerkennung durch den renommierten Kollegen war die akademische Karriere für van der Waals geebnet. Doch der Weg dahin war steinig gewesen. Als ältestes von zehn Kindern eines Zimmermanns hatte Johannes Diderik, geboren am 23. November 1837 in Leiden, nur bis zum 15. Lebensjahr die Schule besucht und war dann bei einem Grundschullehrer in die Ausbildung gegangen. 1861 qualifizierte er sich als Lehrer und wurde schließlich Direktor einer Leidener Grundschule.
An der Universität konnte sich van der Waals nicht einschreiben, weil ihm die altsprachliche Ausbildung fehlte. Dennoch begann er 1862, im Alter von 25 Jahren, in seiner Freizeit Vorlesungen in Mathematik, Physik und Astronomie zu hören. 1865 wurde er Physiklehrer in Deventer und heiratete die 18-Jährige Anna Magdalena Smit, mit der er vier Kinder hatte. Ein Jahr später wechselte er nach Den Haag, weil er von dort aus weiter Vorlesungen an der Universität Leiden besuchen konnte. Schließlich erlaubte eine Gesetzesänderung, sich von altsprachlichen Kenntnissen dispensieren zu lassen, sodass van der Waals ab 1871 regulär studieren konnte.
Nach seiner Promotion blieb er noch bis 1877 Physiklehrer und Direktor an der höheren Bürgerschule in Den Haag. Seit 1875 war er Mitglied der Niederländischen Akademie der Wissenschaften. Als 1877 das Athenaeum Illustre in Amsterdam zu einer Universität umgewandelt wurde, kam der ersehnte der Ruf auf eine Professur. Bis zu seiner Emeritierung 1908 war van der Waals Physikprofessor an der Universität Amsterdam. Die Krönung seines Lebenswerks erfuhr er 1910 mit der Verleihung des Physik-Nobelpreises.
In seiner Nobelpreisrede nannte van der Waals seinen gewagtesten Schritt, dass er von der Existenz von Atomen und Molekülen ausgegangen war. „Wir kennen die Natur eines Moleküls, das aus einem einzigen chemischen Atom besteht, nicht. […] aber das Eingeständnis dieser Unkenntnis beeinträchtigt keineswegs den Glauben an seine reale Existenz. Als ich mein Studium begann, hatte ich das Gefühl, dass ich mit dieser Ansicht fast allein dastehe. Und als ich, wie bereits in meiner Abhandlung von 1873 geschehen, ihre Anzahl in einem Gramm-Mol, ihre Größe und die Art ihrer Wirkung feststellte, wurde ich in meiner Meinung bestärkt, dennoch fragte ich mich oft, ob ein Molekül nicht letztlich doch ein Hirngespinst ist und die gesamte Molekulartheorie auch. Und nun halte ich es nicht für übertrieben zu behaupten, dass die reale Existenz von Molekülen von allen Physikern angenommen wird. […] Es ist für mich eine große Freude, dass immer mehr jüngere Physiker die Inspiration für ihre Arbeit in Studien und Betrachtungen der Molekulartheorie finden.“
Professor Oscar Montelius, Direktor der Schwedischen Akademie der Wissenschaften, blickte in seiner Ansprache anlässlich der Preisverleihung auch auf die weiteren Leistungen von Johannes Diderik van der Waals. 1880 hatte dieser das Prinzip der korrespondierenden Zustände formuliert. Damit lässt sich das thermodynamische Verhalten beliebiger Substanzen unabhängig von materialspezifischen Parametern beschreiben, wenn man ihre Zustandsgrößen Druck, Volumen und Temperatur auf den jeweiligen Wert am kritischen Punkt bezieht. Van der Waals gelang damit eine vollständige Beschreibung des Zustands von Gasen und vieler Flüssigkeiten unter verschiedenen äußeren Bedingungen; er konnte damit auch empirische Beobachtungen erklären.
„Die Theorie von van der Waals hat auch durch ihre Vorhersagen, die es ermöglichten, die Bedingungen für die Umwandlung von Gasen in Flüssigkeiten zu berechnen, einen glänzenden Erfolg erzielt. Vor zwei Jahren gelang es van der Waals' prominentestem Schüler, Kamerlingh Onnes, auf diese Weise, Helium – das letzte bisher nicht kondensierte Gas – zu verflüssigen“, erklärte Montelius der Festgesellschaft. 1898 hatte James Dewar bereits Wasserstoff verflüssigt. So hatten van der Waals vorwiegend theoretische Überlegungen auch Einfluss auf die Tieftemperaturphysik und die moderne Kältetechnik.
Johannes Diderik van der Waals starb hochgeehrt am 8. März 1923 in Amsterdam.
Anne Hardy
Weitere Informationen
- J. D. Van der Waals, Over de Continuiteit van den Gas- en Vloeistoftoestand. Dissertation Universität Leiden, 14. Juni 1873 (University of Illinois at Urbana-Champaign Rare Book Room Exhibit)
- J. C. Maxwell, van der Waals on the continuity of the gaseous and liquid states, Nature 10, 477 (1874)
- Nobelpreis für Physik 1910 für Johannes Diderik van der Waals
Weitere Beiträge
- F. Intravaia, D. Reiche und K. Busch, In der Unruhe liegt die Kraft, Physik Journal, Mai 2022, S. 35 PDF
- S. Jorda, Kalt und kostbar, Physik Journal, Juli 2008, S. 27 PDF
- A. J. Kox, Pieter Zeemann – Ein Pionier der Magneto-Optik, Physik Journal, Juni 2015, S. 51 PDF
- Der Nobelpreis für Physik 1910 Van der Waals, Physikalische Blätter 7, 170 (1951) PDF
Meist gelesen
Ehemaliger DPG-Präsident Alexander Bradshaw verstorben
DPG-Ehrenmitglied Alexander Bradshaw ist im Alter von 80 Jahren verstorben.
Pionier der Lasertheorie gestorben
Der theoretische Physiker Hermann Haken, Begründer der Synergetik, ist im Alter von 97 Jahren gestorben.
Siegreicher D-A-CH-Schaden
Das deutsch-schweizerische Team D-A-CH-Schaden hat den Studierendenwettbewerb PLANCKS gewonnen.
Tote Fische schwimmen (fast) besser
Am Massachusetts Institute of Technology wurden die diesjährigen Ig Nobel Prizes verliehen.
Grüner Wasserstoff aus Afrika
Neuer Atlas zeigt Potenziale für die Produktion von grünem Wasserstoff für West-, Ost und das südliche Afrika.