Auf zu den Trojanern und Hellenen, bei Jupiter!
Raumsonde Lucy ist unterwegs zu den auf Lagrangepunkten des Gasriesen gefangenen Asteroiden.
Am Samstag, dem 16. Oktober 2021, ist um 11.34 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit eine ungewöhnliche NASA-Mission mit einer Atlas-Trägerrakete von Cape Canaveral ins Sonnensystem gestartet. Ziel der Mission Lucy sind die Trojaner-Asteroiden, die sich auf der Jupiterbahn befinden. Sie unterscheiden sich vermutlich deutlich von den Planetoiden im Asteroiden-Hauptgürtel zwischen Mars und Jupiter. Asteroiden gelten als Zeitzeugen der Entstehung von Planeten und können Aufschluss über die Entwicklung der Planeten unseres Sonnensystems geben. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) ist an der Mission wissenschaftlich beteiligt.
Lucy wird nach einer mehrjährigen Reise zum ersten Mal Trojaner-Asteroiden besuchen. Das sind kleine Planetoiden, die ihren Platz im Sonnensystem vor über vier Milliarden Jahren in zwei Regionen auf der Bahn des Jupiter gefunden haben. Im Gegensatz zu den vielen Hunderttausenden Asteroiden im Hauptgürtel zwischen Mars und Jupiter wird vermutet, dass es sich bei diesen Körpern in mehr als 700 Millionen Kilometern Entfernung zur Sonne um Asteroiden handelt, die ihren Ursprung jenseits der Jupiterbahn haben. „Das macht diese ‚Zeitkapseln‘ für eine genauere Untersuchung sehr interessant“, freut sich Stefano Mottola vom DLR-Institut für Planetenforschung auf die Mission, an der er wissenschaftlich beteiligt ist. „Wir erhoffen uns bedeutende neue Kenntnisse über die früheste Zeit des Sonnensystems und die Entstehung der Planeten.“
Allerdings benötigt das 14-köpfige wissenschaftliche Kernteam dafür einiges an Geduld. Denn nach dem Start wird Lucy (die „Wunderbare“, nach einem Wort in einem äthiopischen Dialekt und benannt nach einem drei Millionen Jahre alten fossilen Urmenschen-Skelett, das 1974 in Äthiopien ausgegraben wurde) auf einer verschlungenen Bahn durch das innere Sonnensystem erst 2027 die Trojaner-Asteroiden auf der Jupiterbahn erreichen. Zuvor wird sie im April 2025 den vier Kilometer großen Hauptgürtel-Asteroiden Donaldjohanson passieren, der den Namen von einem der beiden Entdecker des Urmenschen Lucy trägt.
Die beim Start etwa anderthalb Tonnen schwere Raumsonde führt drei wissenschaftliche Instrumente mit sich, mit denen die Zielasteroiden fotografisch erfasst, sowie ihre chemisch-mineralogische Zusammensetzung und physikalische Parameter mit verschiedenen Spektrometern ermittelt werden. Lucy ist die 13. Mission der sehr erfolgreichen NASA-Discovery-Klasse, spezialisierten und vergleichsweise kleinen und organisatorisch „schlanken“ Raumsonden. Die wissenschaftliche Leitung liegt bei Hal Levison und Cathy Olkin vom Southwest Research Institute in Boulder im US-Bundesstaat Colorado. Das Goddard Spaceflight Center der NASA in Greenbelt (Maryland) steuert die Mission.
Das DLR ist mit Stefano Mottola vom Berliner Institut für Planetenforschung als Mitglied des Wissenschaftsteams von Lucy beteiligt. Mottola wirkte auch maßgeblich an den Missionen Rosetta, Dawn und Hayabusa2/MASCOT mit. „Während der Missionsvorbereitung zu Lucy war mein Schwerpunkt die Untersuchung der Zielkörper mit erdgestützten Teleskopen, um von ihnen Lichtkurven zu erhalten“, erklärt Mottola eine seiner Aufgaben im Team. „Durch diese Beobachtungen können wir die Vorbeiflüge optimieren“. Im Laufe seiner Karriere war Mottola an der teleskopischen Entdeckung von Hunderten von Asteroiden beteiligt. „Außerdem werden wir nach der Ankunft durch Berechnungen von Körperformen, Bildmosaiken, Atlanten und der Kartierung von Helligkeiten und Zusammensetzung die Mission begleiten. Aus den Daten der Navigationskameras wird dann die genaue Gestalt der Asteroiden abgeleitet.“ Ferner wird Martin Pätzold von der Universität Köln, gefördert von der Raumfahrtagentur im DLR, über die Auswertung des Funkverkehrs (Rot- und Blauverschiebung, also Dehnung und Stauchung der Funkwellen durch den Doppler-Effekt) Masse und Aufbau der Asteroiden untersuchen.
Bei den Trojanern handelt es sich um eine besondere Gruppe von Asteroiden, kleine Körper bis zu 250 Kilometer Durchmesser, die in Regionen angesiedelt sind, die auf der Jupiterbahn dem Planeten in einem festen Abstand vorauslaufen beziehungsweise nachfolgen. Es sind die Positionen im Raum eines Zweikörpersystems – wie hier eben Sonne und Jupiter –, an denen sich Anziehungs- und Fliehkräfte die Waage halten. Die insgesamt fünf Punkte, von Lagrange-1 (L1) bis Lagrange-5 (L5), sind nach dem italienisch-französischen Astronomen und Mathematiker Joseph-Louis de Lagrange (1736-1813) benannt.
Zwei dieser Lagrange-Punkte, L4 und L5, sind immer stabil und bilden ein gleichschenkliges Dreieck mit 60-Grad-Winkeln zu Sonne und Jupiter.
In der realen Welt befinden sich die Trojaner beziehungsweise Hellenen nicht genau auf diesen beiden Punkten, sondern umkreisen sie in unterschiedlichen Entfernungen, sodass sie quasi eine Wolke von Asteroiden bilden. Heute sind knapp zehntausend dieser Objekte bekannt, es werden aber, wie im Asteroiden-Hauptgürtel, bis zu einer Million von ihnen vermutet. Diese sind aber wegen ihrer dunklen Oberfläche und geringen Größe sehr schwer mit Teleskopen zu entdecken. Die Internationale Astronomische Union (IAU) hat noch eine weitere Anleihe bei der Ilias, der berühmten antiken Sage des Homer über den Kampf um Troja, genommen: Sie bezeichnete die dem Jupiter vorauslaufenden Asteroiden als Lager der „Hellenen“ mit den Namen der griechischen Helden. Dementsprechend wurden die hinterherlaufenden Asteroiden als „Trojaner“ benannt, mit den Namen der Heroen aus der kleinasiatischen Stadt. Da inzwischen alle in der Ilias auftauchenden Namen an Trojaner-Asteroiden vergeben sind, werden neu entdeckte Körper von der IAU jetzt nach modernen Helden benannt, großen Athleten der Olympischen und Paralympischen Spiele der Neuzeit.
Es ist das erste Mal, dass Körper, die an Lagrange-Punkten entlang einer Planetenbahn um die Sonne kreisen, Besuch von einer Raumsonde bekommen. Jupiter selbst spielt bei der Mission keine Rolle: Er wird in beiden Missionsphasen viele hundert Millionen Kilometer von Lucy entfernt sein. In der Planetenforschung hatten die Trojaner-Asteroiden seit Jahren als neues Ziel höchste Priorität: Die Forscher vermuten, dass diese Trojaner im Gegensatz zu den Hauptgürtel-Asteroiden weniger mit den Körpern des inneren Sonnensystems gemein haben, sondern mehr mit den äußeren Regionen unseres Planetensystems.
Denn mit Jupiter, dem größten Planeten des Sonnensystems, beginnt das Reich der Gasplaneten und ihrer Eismonde. Noch weiter von der Sonne entfernt, jenseits des Neptun, erstreckt sich das Ursprungsgebiete der Kometen, die ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Entwicklung des Sonnensystems eine Rolle spielten. Es ist die Zone der „transneptunischen Objekte“, zu denen auch Pluto gezählt wird. So wie die Hauptgürtel-Asteroiden Reste der Bildung der vier erdähnlichen Planeten sind, dürften die Jupiter-Trojaner Überbleibsel des Ausgangsmaterials der äußeren Planeten sein, mit Ursprüngen in ganz unterschiedlichen Sonnenentfernungen.
Am Ziel angekommen im Reich der L4-Asteroiden, der „Hellenen“, wird Lucy die Asteroiden Eurybates (August 2027) mit dem erst letztes Jahr vom Lucy-Team entdeckten Mond Queta, Polymele (September 2027), Leucus (April 2028) und Orus (November 2028) aus der Nähe untersuchen. Anschließend wird Lucy wieder zurück ins innere Sonnensystem zur Erde gelenkt – ein Novum in der Geschichte der Raumfahrt. Dort wird die Raumsonde mithilfe eines „Gravity-Assist-Manövers“ zum L5-Punkt gelenkt, wo Lucy im Trojanerlager den Asteroiden Patroclus mit seinem binären Begleiter Menoetius erreichen wird. Die nominelle Mission ist dann zu Ende, doch wenn noch Treibstoff und für den Missionsbetrieb notwendige Ressourcen vorhanden sind, könnte die Mission verlängert werden: Lucy würde dann nochmal zur Erde zurückkehren um am Ende des Jahrzehnts erneut in die Asteroidenwolke am L4-Punkt zu fliegen.
Die Untersuchung der kleinen Körper im Sonnensystem hat in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen. Asteroiden und Kometen sind in den meisten Fällen fast oder kaum veränderte Zeugen der Planetenentstehung vor etwas mehr als viereinhalb Milliarden Jahren. Je weiter sie von der Sonne entfernt entstanden sind und sich noch heute befinden, um so weniger waren sie dem Einfluss der Sonne ausgesetzt und haben sich deshalb nur wenig verändert. Die Planeten bildeten sich damals verblüffend schnell, in nur wenigen Millionen bis Dutzende Millionen Jahren. Weil sie sich aber seither allesamt stark verändert haben, ermöglichen nur noch Asteroiden und Kometen einen Blick zurück in jene Zeit, um die Vorgänge genau entschlüsseln zu können.
DLR / DE