20.10.2022

Aus dem Zentrum verbannt

Vor 50 Jahren starb der amerikanische Astronom Harlow Shapley, der den Ort unseres Sonnensystems neu bestimmte.

Am 31. Mai 1921 verkündete die New York Times auf ihrer Titelseite, der Astronom Harlow Shapley vom Mount Wilson Observatorium habe die Ausdehnung des Universums immens erweitert. Nicht nur, dass unsere Galaxie einen Durchmesser von 300.000 Lichtjahren habe - statt 15.000, wie zuvor angenommen. Mehr noch: „Der junge Astronom hat durch verschiedene Berechnungen zu seiner Zufriedenheit bewiesen, dass die Sonne, der kleine Lichtfleck, um den ein winziger Schatten namens Erde kreist, 60.000 Lichtjahre vom Zentrum des Universums entfernt ist.“

Diese Tat ist später oft mit der Erkenntnis von Galilei und Kopernikus verglichen worden, die die Erde vom Mittelpunkt des Sonnensystems verbannte und in die Reihe der Planeten einfügte. Nun stellte sich heraus, dass noch nicht einmal unser Sonnensystem im Mittelpunkt der Galaxie steht, sondern an deren Rand. Shapley schrieb dazu 1969 in seinen Memoiren: „Das Sonnensystem ist aus dem Zentrum geraten, und folglich auch der Mensch, was eine recht nette Idee ist, weil es bedeutet, dass der Mensch nicht so ein großes Huhn ist. Er ist nebensächlich – mein Lieblingsbegriff ist ‚peripher‘.“

Allerdings stand er selbst gern im Mittelpunkt. Zeitgenossen beschreiben Shapley als einen eitlen Mann, der am besten mit denjenigen auskam, die ihm schmeichelten. Und der sehr nachtragend war, wenn man ihn beleidigt hatte. „Er war ein großzügiger Förderer, ein anregender Gefährte, konnte aber auch ein unerbittlicher Feind sein“, charakterisiert ihn die aus England stammende Astronomin Cecilia Payne, die bei Shapley 1923 die Gelegenheit erhalten hatte, als erste Doktorandin am Observatorium der Universität Harvard zu arbeiten.

Shapley kam aus einfachen Verhältnissen. Geboren am 2. November 1885, wuchs er mit seinen drei Geschwistern auf einer Farm in der Nähe von Nashville, Missouri, auf. Mit 15 Jahren wurde er Reporter, zuerst bei der „Daily Sun“ in Chanute, einer rauen Ölstadt in Kansas. Dann ging er zurück nach Missouri und arbeitete als Polizei-Berichterstatter bei der Joplin Times. Als er endlich genug Geld gespart hatte, um aufs College zu gehen, wurde er wegen seiner dürftigen Vorbildung abgelehnt. Doch er blieb hartnäckig, zahlte die College-Vorbereitungsschule aus eigener Tasche, absolvierte das College und konnte sich 1907 an der Universität von Missouri einschreiben – wie es sich seine Mutter, eine Lehrerin, gewünscht hatte.

Ursprünglich wollte er Journalismus studieren, doch er musste feststellen, dass die Eröffnung des Studiengangs verschoben worden war. Shapley scherzte später, er habe das Vorlesungsverzeichnis aufgeschlagen und das erste Fach im Alphabet (Archäologie) nicht aussprechen können. Daher habe er das nächste, die Astronomie, gewählt. Nicht unerheblich für seine Wahl war, dass Frederick Seares, der Leiter der astronomischen Abteilung, ihm einen Job angeboten hatte. Seares war von dem ehemaligen Reporter so beeindruckt, dass er ihn innerhalb von zwei Jahren beauftragte, den Einführungskurs in die Astronomie zu unterrichten. Und obwohl Shapley anfangs nur wenig über Physik und Mathematik wusste, schloss er sein Bachelor-Studium 1910 mit Auszeichnung ab.

Nach einem weiteren Jahr, in dem er seinen Master absolvierte, ging er mit einem Stipendium nach Princeton, um dort bei dem gerade neu berufenen Direktor der Sternwarte Henry Russel zu promovieren. Unter dessen Leitung spezialisierte sich Shapley auf Bedeckungsveränderliche unter den Fixsternen. Das sind Sterne, deren Leuchtkraft scheinbar abnimmt, wenn sie von ihren dunklen Begleitern verdeckt werden. Insbesondere konnte er zeigen, dass es sich bei den Cepheiden nicht um Bedeckungsveränderliche, sondern um periodisch Veränderliche handelte. Die Astronomin Henrietta Leavitt hatte 1912 an den Cepheiden in der kleinen Magellanschen Wolke entdeckt, dass die Perioden-Leuchtkraft-Beziehung dieser Sterngruppe dazu dienen kann, Entfernungen himmlischer Objekte zu berechnen.

Entscheidend für Shapleys nächsten Karriereschritt war, dass Seares, sein Bachelor-Professor in Missouri, 1909 zum Mount Wilson Observatorium gewechselt war. Er vermittelte Shapley eine Stelle an der berühmten Sternwarte in Kalifornien. Das dortige, von George Ellery Hale konzipierte Teleskop mit einem Spiegeldurchmesser von 1,5 Metern, das erst 1908 fertiggestellt worden war, galt als das größte der Welt. Hale bot Shapley 1912 eine Stelle an, doch dieser ließ sich bis zu seinem Dienstantritt noch zwei Jahre Zeit, in denen er Europa bereiste und seine Arbeit bei Russel fortsetzte.

Schließlich reiste er im Frühjahr 1914 von der Ost- zur Westküste und heiratete bei einem Zwischenstopp in Kansas City Martha Betz, seine Liebe aus Studienzeiten. Sie war eine begabte Astronomin, die ihre Arbeitskraft in den Dienst ihres Mannes stellte und die fünf gemeinsamen Kinder großzog. Martha hatte ihm bereits dabei geholfen, die Datenberge zu reduzieren, die er für seine Doktorarbeit gesammelt hatte. Auf der Zugfahrt in die Flitterwochen nach Kalifornien berechnete das frisch getraute Paar die Umlaufbahnen von Bedeckungsveränderlichen.

Shapleys Zeit am Mount Wilson war die produktivste seiner Karriere. Zwischen 1914 und 1921 publizierte er etwa 150 Fachartikel. Sie gipfelten in der Neuberechnung der Ausdehnung der Milchstraße mithilfe der Verteilung von Kugelsternhaufen. Seine Stärke als Astronom war zugleich seine Schwäche: Wie Hale später feststellte, „ist er viel risikofreudiger als andere Mitarbeiter [des Mount Wilson] und eher bereit, weitreichende Schlussfolgerungen auf der Grundlage eher spärlicher Daten zu ziehen.“

Hatte Shapley in Bezug auf die Größe der Milchstraße zumindest von der Größenordnung her richtig gelegen, so irrte er sich in Bezug auf die „Spiralnebel“, die er unserer Galaxie zurechnete. Sein Kollege Heber Curtis vom Lick Observatory sah sie dagegen als eigene Galaxien an. Die Kontroverse, die am 26. April 1921 in einer Auseinandersetzung vor der National Academy of Sciences gipfelte, ist als „Great Debate“ in die Geschichte eingegangen. Allerdings hielt sich Shapley bei dieser Gelegenheit mit seiner Theorie über die Spiralnebel zurück, denn er spekulierte auf die Leitung des Harvard Observatory und wusste, dass einige Entscheidungsträger im Auditorium saßen. Er sollte die Stelle nach einigen Verhandlungen, in denen seine „Reife“ für eine Leitungsfunktion infrage gestellt wurde, auch erhalten.

Konsequenterweise widersprach Shapley zunächst auch Edwin Hubble, der 1924 mit dem großen Spiegelteleskop am Mount Wilson Observatorium noch weitere Galaxien außerhalb der Milchstraße beobachtete. Shapley kritisierte dessen Arbeit scharf. Erst nachdem Hubble ihm in einem Brief die Lichtkurve des Cepheiden V1 schickte, erkannte Shapley seinen Irrtum. Berichten zufolge sagte er zu einem Kollegen: „Hier ist der Brief, der mein Universum zerstört hat“. Der Saulus wurde zum Paulus: Zwischen 1925 und 1932 erstellte Shapley eine Karte von 76.000 Galaxien. Als einer der ersten Astronomen postulierte er die Existenz von Galaxien-Superhaufen. Er entdeckte das erste, weit entfernte Exemplar, das später nach ihm benannt wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg trat Shapleys astronomische Forschung hinter sein politisches Engagement zurück. Ende der 1940er-Jahre gehörte er zu den treibenden Kräften bei der Gründung der UNESCO. Er war ein überzeugter Anhänger der Präambel, in der es heißt: „Da Kriege in den Köpfen der Menschen beginnen, müssen auch die Verteidigungsanlagen des Friedens in den Köpfen der Menschen errichtet werden“. Seine liberale und pazifistische Haltung führte dazu, dass er während der McCarthy-Ära als einer der Kommunisten des State Departments eingestuft wurde.

Shapley schrieb zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher über Astronomie. Das 1958 erschienene Buch „Of Stars and Men“ wurde sogar als Zeichentrick verfilmt. Er starb kurz vor seinem 87. Geburtstag am 20. Oktober 1972 in Boulder, Colorado.

Anne Hardy

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