Auszeichung für Pionierin der Multiferroika-Forschung
Nicola Spaldin erhält den Hamburger Preis für Theoretische Physik 2022.
Die britische Wissenschaftlerin Nicola Spaldin erhält den Hamburger Preis für Theoretische Physik 2022. Die Professorin für theoretische Werkstoffkunde an der ETH Zürich ist Wegbereiterin für die Entwicklung einer neuen Klasse von Materialien – den Multiferroika. Diese könnten zukunftsweisende Anwendungsmöglichkeiten in der Mikroelektronik ermöglichen, wie etwa den Bau ultraschneller Datenspeicher oder hochempfindlicher Sensoren. Der Preis wird Spaldin am 9. November 2022 in Hamburg verliehen, gemeinsam von der Joachim Herz Stiftung, dem Wolfgang Pauli Centre des Desy und der Universität Hamburg, dem Deutschen Elektronen-Synchrotron sowie den beiden Exzellenzclustern „CUI: Advanced Imaging of Matter“ und „Quantum Universe“ an der Universität Hamburg.
Nicola Spaldins theoretische Analysen wiesen den Weg zur Herstellung maßgeschneiderter Kristalle, die zugleich ferromagnetisch und ferroelektrisch sind. Diese ungewöhnliche Kombination könnte den Bau ultraschneller Datenspeicher und hochempfindlicher Sensoren ermöglichen. Die magnetoelektrischen Multitalente versprechen noch weitere zukunftsweisende Anwendungen. Mit ihrer Hilfe ließe sich in Computern die räumliche Trennung zwischen der elektrischen Verarbeitung von Informationen im Prozessor und ihrer magnetischen Speicherung auf Festplatten aufheben. Das würde höhere Rechenleistung bei geringerem Energieverbrauch ermöglichen und nährt bei Fachleuten die Hoffnung, multiferroische Materialien könnten den Weg zu Mikroelektronik-Bauteilen weisen, die ohne den Halbleiter Silizium auskommen.
„Mit Nicola Spaldin zeichnen wir in diesem Jahr eine Wissenschaftlerin aus, deren Arbeiten vor über zwanzig Jahren den Anstoß für weltweite Multiferroika-Forschungen gaben. Mit der Preisverleihung würdigen wir ihre beeindruckende Pionierleistung, aber auch ihre vielfältigen Aktivitäten im Bereich der internationalen Zusammenarbeit und Lehre“, so Sabine Kunst, Vorstandsvorsitzende der Joachim Herz Stiftung. Der Hamburger Preis für Theoretische Physik wird seit 2010 an international renommierte Forscherinnen und Forscher vergeben. Nicola Spaldin ist die erste Frau, die ihn erhält. Er ist einer der höchstdotierten Wissenschaftspreise für Physik in Deutschland. Das Preisgeld beträgt 137.036 Euro, eine Anspielung auf die Sommerfeldsche Feinstrukturkonstante, die in der Theoretischen Physik eine wichtige Rolle spielt.
Der Physikpreis für Nicola Spaldin ist mit einem Forschungsaufenthalt in Hamburg verbunden. „Nicola Spaldins führende Expertise beim theoriegeleiteten Design multifunktionaler Materialien knüpft eng an Forschungsschwerpunkte unserer Science City Hamburg Bahrenfeld an, etwa in den Arbeitsgruppen am Max-Planck-Institut für Struktur und Dynamik der Materie, am CFEL und dem European XFEL. Ihre Ideen zur Simulation von Higgs-Bosonen oder kosmischen Strings in neuartigen Materialien bergen darüber hinaus auch das Potenzial für einen spannenden Brückenschlag bis hinein in die Teilchenphysik bei Desy und der Universität Hamburg. So freuen wir uns sehr auf den Austausch mit ihr“, äußert sich Volker Schomerus, Leitender Wissenschaftler bei Desy und Sprecher des Wolfgang Pauli Centres.
Nicola Spaldin (geboren 1969) studierte Chemie und Geologie an der University of Cambridge und interessierte sich schon früh für die Schnittstelle zwischen theoretischer Physik, Chemie und Materialforschung. 1996 wurde sie an der University of California/Berkeley promoviert. Sie war als Postdoktorandin an der Yale University/New Haven, bevor sie an der University of California/Santa Barbara eine Assistenzprofessur und eine außerordentliche Professur übernahm. 2006 wurde sie an derselben Universität zur ordentlichen Professorin berufen. Seit 2011 ist sie Professorin für theoretische Werkstoffkunde am Departement Materialwissenschaft der ETH Zürich.
1997 machte ein Kollege an der Yale University während einer Kaffeepause einen beiläufigen Kommentar zu Nicola Spaldin, der ihr keine Ruhe mehr lassen sollte: Es sei schade, dass es keine ferroelektrischen Materialien gebe, die auch ferromagnetische Eigenschaften zeigen, also magnetisierbar sind. Mit Hilfe von Quantentheorie und Computermodellen untersuchte sie in den folgenden Jahren, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit kristalline chemische Verbindungen sowohl elektrisch polarisierbar als auch magnetisierbar sind. Im Jahr 2000 veröffentlichte sie einen wegweisenden Artikel mit dem Titel „Why are there so few magnetic ferroelectrics?“ Die wichtigste Erkenntnis: Ferromagnetismus und Ferroelektrizität sind nicht grundsätzlich unvereinbar. Man müsste nur die richtigen Atome in einer passenden Kristallstruktur anordnen, um solche multiferroischen Materialien zu erhalten.
Mit Hilfe der Dichtefunktionaltheorie kam sie zu dem Schluss: Metalloxid-Verbindungen, die neben Sauerstoffatomen zwei spezifische Metallatome enthalten, könnten ferroelektrische und ferromagnetische Eigenschaften vereinen. Um ihre Vorhersagen zu prüfen, begann sie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen solche chemischen Verbindungen im Labor herzustellen. Der Durchbruch gelang 2003 in Kooperation mit der Forschergruppe um den Physiker Ramamoorthy Ramesh von der University of California in Berkeley: Dünne, im Labor hergestellte Materialfilme aus Bismutferrit zeigten multiferroische Eigenschaften. Nach der Publikation im Fachmagazin Science stieg die Zahl der Publikationen zu diesem Thema sprunghaft an. Das Material zählt heute zu den am intensivsten erforschten Multiferroika.
Joachim Herz Stiftung / JOL