Das Kleinste sichtbar machen
Projekt „Electron Nanocrystallography“ soll die Entwicklung von Nanomaterialien voranbringen.
Wissenschaft und Technik dringen in immer kleinere Bereiche vor. Immer bessere Mikroskope und Untersuchungsmethoden lassen uns heute einen Blick in die Welt der kleinsten Strukturen werfen. Eine dieser Methoden ist die Elektronenbeugung, die in nur wenigen Minuten die Struktur winziger Kristalle sichtbar machen kann. Um den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern und die Kompetenzen in Europa besser zu verknüpfen, hat sich auf dem Gebiet der Elektronenbeugung zur Untersuchung von Kristallstrukturen ein neues Netzwerk gegründet: Das Projekt „Electron Nanocrystallography“ (NanED) wird von der Europäischen Union im Rahmen der Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen in den kommenden vier Jahren mit knapp vier Millionen Euro gefördert.
Daran beteiligt sind Forschungseinrichtungen aus sieben Ländern, darunter die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), sowie 16 Unternehmenspartner. Vorgesehen ist die Ausbildung von 15 Nachwuchsforschern. Die JGU ist mit zwei Projekten an NanED beteiligt, in denen die Elektronenbeugungstomografie weiterentwickelt wird. Die Methode wurde in der Arbeitsgruppe von Ute Kolb am Zentrum für hochauflösende Elektronenmikroskopie der JGU etabliert.
Eines dieser NanED-Teilprojekte will einen Beitrag leisten, um den Kohlendioxid-Ausstoß aus der Zementproduktion zu verringern. Dabei soll der Herstellungsprozess von Zement und seine Hydratation für die Betonproduktion untersucht werden. „Wir wollen in diesem Projekt eine Vielzahl von neuen, aufregenden Kristallstrukturen erforschen“, erklärt Ute Kolb. „Damit verbinden wir die Hoffnung, vielleicht neue Wege zu finden, um die Kohlendioxidemissionen durch die Bauindustrie zu verringern.“ Die Zementproduktion hat durch die Freisetzung von Kohlendioxid einen wesentlichen Anteil an der globalen Erwärmung. Dass die automatisierte Beugungstomografie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von natürlichen und synthetischen Stoffen liefert, zeigt sich in einer Vielfalt von Kristallstrukturen, die damit im Bereich der Karbonate, Phosphate und Sulfate bereits gelöst werden konnten. In einem Kooperationsprojekt hatte Ute Kolb beispielsweise zur Entdeckung von Kalziumkarbonat-Hemihydrat, einer bis dahin unbekannten, nanokristallinen Phase von Kalziumkarbonat, beigetragen.
Ein weiteres Projekt im Rahmen des EU-geförderten Innovative Training Network NanED in der Arbeitsgruppe von Kolb ist die Untersuchung von Glaskeramiken und Batteriematerialien für den medizinischen Bereich. „Diese technisch hochentwickelten Materialien bestehen oft aus einer Vielzahl unterschiedlicher Nanokristalle, die fest miteinander verbundenen sind. Sie können durch die Kristallstrukturanalyse in ihren Materialeigenschaften verbessert werden“, erklärt die Chemikerin, die auch eine Arbeitsgruppe an der TU Darmstadt leitet. Weitere Forschungsbereiche von NanED umfassen etwa die Kristallstrukturanalyse von Pharmaka, Proteinen, 2D-Kristallen und Metall-organischen Netzwerken (MOFs).
Insgesamt sollen bei NanED 15 Doktoranden ausgebildet werden – eine neue Generation von Elektronenkristallografen, die den Weg für die Entwicklung und Etablierung der Methode in der Wissenschaft und in der Industrie ebnen. Das Netzwerk hofft, dass Europa dadurch die führende Rolle bei der Charakterisierung und Entwicklung von Nanomaterialien einnehmen wird – und einen spürbaren und globalen wirtschaftlichen Einfluss ausübt.
Die Elektronenmikroskopie hat sich durch die zunehmende Nutzung nanoskopischer und nanostrukturierter Materialien zu einem wichtigen Werkzeug entwickelt. Es lassen sich damit sowohl synthetische als auch natürliche Stoffe bis hin zur atomaren Auflösung charakterisieren. Damit können Kristalle von nur wenigen Nanometern Größe untersucht werden. Bei der Elektronenkristallografie wird ein Elektronenstrahl auf die Probe gerichtet. Aus der Art und Weise, wie der Elektronenstrahl seinen Weg durch den Kristall nimmt, kann auf die Lage der Atome und die Struktur des Moleküls geschlossen werden. Während die Strukturaufklärung bisher auf sehr einfache Strukturen beschränkt war, werden mittlerweile auch komplizierte dreidimensionale Strukturen bis hin zu Proteinen gelöst. Die benötigten Kristalle müssen dabei nur einige Hundert bis wenige Zehntel Nanometer groß sein. Allerdings ist dies nur in wenigen Laboren möglich.
Grundlagen für die Erschließung des dreidimensionalen Raums legten die Entwicklungen der Automated Diffraction Tomography (ADT) in dem Labor von Ute Kolb. „Vor allem durch die Nutzung der Beugungsdaten in modifizierter Weise konnten wir Probleme, die bei dieser Methode ursprünglich bestanden, grundlegend lösen“, erklärt die Wissenschaftlerin. Die heute als 3D-Elektronenbeugung bezeichnete Methode wird aber noch immer durch den Mangel an entsprechenden Instrumenten und auch an jungen, ausgebildeten Forschern auf Doktorandenebene gebremst. NanED zielt darauf ab, diesen Mangel zu beheben. Die künftigen Doktoranden sollen dazu beitragen, 3D-Elektronenbeugungstechniken in einem interdisziplinären und eng verknüpften Netzwerk zu beherrschen und weiterzuentwickeln.
Die Federführung für NanED liegt bei dem italienischen Forschungszentrum Istituto Italiano di Tecnologia. Beteiligt sind außerdem – neben der JGU – die Universitäten in Ulm, Basel, Antwerpen und Stockholm sowie das Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Frankreich und das Physikalische Institut (FZU) der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik. Zu den industriellen Partnern gehören große und mittlere Unternehmen, darunter in Deutschland die BASF.
Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen wurden von der Europäischen Kommission eingerichtet, um die länder- und sektorübergreifende Mobilität und die Karriereentwicklung von international mobilen Wissenschaftlern zu fördern und die Attraktivität von wissenschaftlichen Laufbahnen zu steigern. Ziele der Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen sind die Schaffung eines starken Pools von europäischen Forschern, die Steigerung der Attraktivität des Forschungsstandorts Europa für Forscher sowie die breite Zirkulation von Wissen im europäischen Raum. Innovative Training Networks sind in diesem Rahmen eingerichtete europäische Netzwerke zur strukturierten Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlern. Besonders wichtig ist die Beteiligung von Einrichtungen sowohl aus dem akademischen als auch aus dem nicht-akademischen Sektor.
JGU / DE