Die allgemeine Gravitationstheoretikerin
Die französische mathematische Physikerin Yvonne Choquet-Bruhat feiert ihren 100. Geburtstag.
Anne Hardy
Die französische Mathematikerin und Physikerin Yvonne Choquet-Bruhat ist eine moderne Emmy Noether. Sie leistete bedeutende Beiträge zur Allgemeinen Relativitätstheorie (ART). Anders als ihre 40 Jahre ältere deutsche Kollegin wurde sie Professorin und als erste Frau in die französische Académie des Sciences aufgenommen. Am 29. Dezember feiert Yvonne Choquet-Bruhat ihren 100. Geburtstag.
Yvonne Bruhat, geboren 1923 in Lille, entstammt einer Akademiker-Familie. Beide Eltern hatten an der École Normale Supérieure (ENS) studiert. Der Vater Georges war Physik-Professor an der Universität Lille und ihre Mutter Berthe (geb. Hubert) unterrichtete Philosophie an einem Gymnasium. Als Yvonne vier Jahre alt war, zog die Familie nach Paris, wo ihr Vater eine Professur an seiner Alma Mater erhalten hatte.
Die letzten Schuljahre Yvonnes waren vom Zweiten Weltkrieg überschattet. Während des „Sitzkrieges“ (September 1939 bis Mai 1940) war sie wegen der befürchteten Bombardierung von Paris bei Verwandten in Poitier untergebracht. Vor der Besetzung von Paris floh die Familie nach Bordeaux, um das neu ausgestattete Physiklabor des Vaters vor den deutschen Soldaten in Sicherheit zu bringen. Nach dem Waffenstillstand kehrte die Familie im Juni 1940 nach Paris zurück. Während der anschließenden Vichy-Regierung verhalf ihr Vater jüdischen Studierenden zur Flucht in die „freie Zone“.
Yvonne Bruhats Liebe zur Mathematik wurde im Abschlussjahr von einer engagierten Lehrerin geweckt. 1941 bestand sie das Abitur, das ihr sowohl ein geistes- als auch ein naturwissenschaftliches Studium ermöglichte. In der landesweiten Prüfung in Mathematik war sie nicht erfolgreich, schnitt aber in Physik als zweitbeste ihres Jahrgangs ab. Ihre Mathematik-Lehrerin prophezeite ihr trotzdem eine Karriere in der mathematischen Forschung. Die vielseitig interessierte junge Frau beschloss, theoretische Physikerin zu werden – trotz der Bedenken ihres Vaters, der als Professor für experimentelle Optik keine hohe Meinung von der Theorie hatte. Der führende französische Theoretiker war zu dieser Zeit Louis de Broglie. Vater Bruhat bewunderte das Genie, fand aber, dass viele seiner Studenten sich in schlecht begründete Spekulationen verstiegen.
1944 traf die Familie ein furchtbarer Schlag: Georges Bruhat, der als Nachfolger von Ernst Bloch Direktor der ENS geworden war, wurde von der Gestapo verhaftet, weil er sich weigerte, beim Auffinden eines geflüchteten Studenten mitzuwirken, der für die Resistance arbeitete. Bruhat wurde in das KZ Buchenwald deportiert und später in das KZ Sachsenhausen verlegt. Die Familie hoffte, dass er bald von den Alliierten befreit würde. Doch im Frühling 1945 erreichte sie die Nachricht, dass er am 1. Januar des Jahres im KZ an einer Lungenentzündung gestorben war.
Die Familie musste binnen kurzer Zeit die Wohnung räumen, die Bruhat als Direktor der ENS zugestanden hatte. Ein Freund aus dem Ministerium verschaffte Berthe Bruhat eine Stellung als Leiterin eines Mädchen-Pensionats inklusive Dienstwohnung. Yvonne fand Halt bei ihren Freundinnen von der ENS und im Studium. Ein Jahr später, 1946, erhielt sie die Lehrerlaubnis (Agregation) für Mathematik und wurde Dozentin an der ENS. Gleichzeitig begann sie, an ihrer Dissertation zu arbeiten.
Für Yvonne Bruhat war es eine schwere Zeit, denn ihre Mutter, bei der sie nun wieder wohnte, war durch den Tod des Vaters verbittert. Die junge Frau erkrankte an einer zunächst unerkannten Tuberkulose und brauchte drei Jahre, um sich davon zu erholen. Wenn sie nicht zu müde war, nahm sie Zuflucht zur Mathematik. Ihr Doktorvater André Lichnerowicz, dessen erste Doktorandin sie war, förderte Frauen in der Forschung. Er stellte ihr Aufgaben zur Allgemeinen Relativitätstheorie (ART). Noch vor Abschluss ihrer Dissertation veröffentlichte Bruhat 1948 ihre erste Arbeit zum Gauß-Theorem in der ART.
1947 heiratete sie einen Studienfreund, den Mathematiker Léonce Fourès. 1949 bekam sie eine Stelle als wissenschaftliche Assistentin am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS). Kurz nach der Geburt ihrer Tochter im November 1950 schloss sie ihre Dissertation ab, die viel Anerkennung fand: Es war ein mathematischer Beweis für die Ausbreitung des Gravitationsfeldes mit Lichtgeschwindigkeit mit der Konsequenz, dass es Gravitationswellen geben müsse.
Auf Einladung des französischen Mathematikers Jean Leray, der an das Institute for Advanced Study in Princeton berufen worden war, folgte ihm das Ehepaar Fourès-Bruhat 1951 als dessen Assistenten. „Glücklicherweise kann man Mathematik überall betreiben und meine Tochter störte meine Arbeit nicht“, sagt sie über ihre Zeit als Post-Doktorandin.
In guter Erinnerung blieben ihr die Begegnungen mit Einstein. An der Tafel in dessen Büro fasste sie ihre Dissertation für ihn zusammen – auf Französisch, weil ihr Englisch noch nicht gut genug war. Einstein, der zu dieser Zeit zurückgezogen an der Vereinheitlichten Feldtheorie arbeitete, lud sie ein, jederzeit an seine Tür zu klopfen. Einmal forderte er sie auf zu beweisen, dass die Feldgleichungen der Relativitätstheorie keine periodische Lösung haben. Bruhat wusste, dass Einstein einige Jahre zuvor in einer Südamerikanischen Fachzeitschrift das Gegenteil bewiesen hatte. Sie hatte die Arbeit zufällig gelesen und einen Vorzeichenfehler gefunden. Als Einstein ihr gegenüber einräumte, der Artikel sei fehlerhaft, antwortete sie: „Das ist mir aufgefallen.“ „Ein gewöhnlicher Mann hätte mir das vermutlich verübelt. Aber im Gegenteil: danach war Einstein mir gegenüber noch liebenswürdiger.“
Während ihres zweiten Jahres in Princeton veröffentlichte Yvonne Bruhat mit 28 Jahren ihre wichtigste Arbeit. Sie konnte zeigen, dass für die Feldgleichungen der ART eine eindeutige Lösung existiert und dass sie sich kontinuierlich mit den Anfangsbedingungen verändert. Damit legte sie den Grundstein für die Erforschung der Dynamik in der ART. Die Zeitschrift IOPScience würdigte diese Arbeit 2015 als einen von 13 Meilensteinen, die auf Einsteins Arbeit folgten.
1953 erhielten Yvonne und Léonce Fourès eine Doppelberufung an die Universität Marseille. Sie lehrte und forschte dort bis zu ihrer Trennung 1957 und nahm dann eine Dozentenstelle an der Universität Reims an, wo sie bis 1959 bliebt. Den vorläufigen Gipfel ihrer akademischen Karriere erreichte sie, als sie 1960 eine Professur an der Université Pierre et Marie Curie in Paris erhielt, wo sie bis zu ihrer Emeritierung 1992 blieb.
Sie beschäftigte sich vorwiegend mit Problemen der theoretischen Physik, etwa der Umwandlung elektromagnetischer Wellen in Gravitationswellen (oder umgekehrt) in der Nähe eines Schwarzen Lochs. Sie schuf neue mathematische Methoden, nicht nur für die Erforschung der ART, sondern auch für die relativistische Hydrodynamik, nicht-abelsche DMS-Theorien, Supergravitationstheorie und andere. Mit großer Befriedigung nahm sie den experimentellen Nachweis der Gravitationswellen auf.
Ein Jahr nachdem sie Professorin geworden war, heiratete Yvonne Bruhat den Mathematiker Georges Choquet, mit dem sie zwei Kinder hat. In ihren Erinnerungen schreibt sie: „Ich muss meinem Mann recht geben, dass er meine Arbeit nie behindert hat. Er hatte eine solche Verehrung für die Mathematik, dass es ihm nie in den Sinn kam, sich ihrer Praxis zu widersetzen. Er war nicht eifersüchtig auf meinen Erfolg, denn zu meinem Glück war er zu Recht von seiner Überlegenheit überzeugt.“
Ihr Mann freute sich aufrichtig, als sie 1979 als erste Frau in die Akademie des Sciences gewählt wurde – eine Ehre, die Marie Curie verwehrt worden war. Gustave Choquet war ein Jahr vor seiner Frau in die illustre Gesellschaft aufgenommen worden. Als sie später immer höhere Stufen der Ehrenlegion erklomm, sagte er ohne Groll: „Es ist, weil sie eine Frau ist“. Yvonne Choquet-Bruhat stimmte ihm zu.
1985 wurde sie auch in die American Academy of Arts and Sciences aufgenommen. Ein Jahr später hielt sie die Emmy-Noether-Vorlesung für die Association of Women in Mathematics. Yvonnes Bruder Jacques Bruhat, ebenfalls ein Mathematiker, wurde 1990 in die Académie des Sciences aufgenommen.
Wer die Memoiren von Yvonne Choquet-Bruhat liest, die voller Schilderungen freundschaftlicher Begegnungen weltweit sind, glaubt ihr, dass sie nie nach Ehrungen gesucht hat, sondern die Sympathie ihrer Mitmenschen. „Der wichtigste Teil meines Lebens sind meine drei Kinder“, schreibt sie.
Quelle und weitere Informationen
- Yvonne Choquet-Bruhat, A Lady Mathematician in this Strange Universe. World Scientific Publishing, Singapur 2018 (franz. Originalausgabe: Une mathématicienne dans cet étrange Univers: Mémoires, Odile Jacob, Paris 2016)
- Iona Fechete, Accomplishments of Yvonne Choquet-Bruhat, Comptes Rendus Chimie 19, 1382 (2016)PDF
- Yvonne Choquet-Bruhat (Agnes Scott College: Biographies of Women Mathematicians)
- Yvonne Choquet-Bruhat (Biografie auf MacTutor History)
- Hans Ringström, Origins and development of the Cauchy problem in general relativity, Class. Quantum Grav. 32, 124003 (2015) PDF
- Video: Yvonne Choquet-Bruhats Emmy-Noether-Vorlesung (Madrid 2006)
- Video: Thibault Damour - Yvonne Choquet-Bruhat: a Mathematician in Einstein’s Universe (IHÉS)
- Video: Happy Birthday, Yvonne Choquet-Bruhat! (Workshop „Mathematical Relativity: Past, Present, Future“, ESI, 4.-7. Dezember 2023)
- Yvonne Choquet-Bruhat, General Relativity and the Einstein Equations Get access Arrow, Oxford University Press, Oxford 2008