Die Vermesserin des Universums
Vor 150 Jahren wurde die Astronomin Henrietta Swan Leavitt geboren, welche die Perioden-Leuchtkraft-Beziehung der Cepheiden entdeckte.
Als Henrietta Swan Leavitt ihre astronomische Laufbahn am Observatorium der Harvard Universität begann, durften Frauen in den Vereinigten Staaten keine höheren akademischen Positionen bekleiden. Leavitts erste Arbeiten wurden unter dem Namen von Edward Charles Pickering, dem Leiters des Observatoriums, veröffentlicht. Sie blieb die meiste Zeit ihrer Laufbahn Assistentin und wurde erst wenige Monate vor ihrem Tod zur Leiterin des „Department of Photographic Photometry“ ernannt.
Leavitt saß zusammen mit etlichen weiteren gut ausgebildeten Frauen in einem engen Raum, um fotografische Platten auszuwerten. 1912 fand sie den Zusammenhang zwischen der Periode und Leuchtkraft der Cepheiden. Diese Entdeckung ermöglichte es, Entfernungen kosmischer Objekte zu bestimmen. So gelang es Edwin Hubble 1924 durch Beobachtung eines Cepheiden-Veränderlichen in der Andromeda-Galaxie, erstmals deren Entfernung zu bestimmen.
Henrietta Leavitt wurde am 4. Juli 1868 in Lancaster, Massachusetts, als älteste Tochter eines Pfarrers geboren. Sie erhielt eine gute Schulausbildung und besuchte anschließend die „Society for the Collegiate Instruction of Women“, das spätere Radcliffe College. 1892 schloss sie ihr fachlich breit angelegtes Studium mit dem Äquivalent eines Bachelor Abschlusses ab.
In ihrem letzten Studienjahr hatte sie während eines Kurses am Observatorium der Harvard Universität ihr Interesse für Astronomie entdeckt. Da Frauen damals noch nicht an Teleskopen arbeiten durften, bewarb sie sich für ein Praktikum bei Edward Pickering, der etwa 80 Frauen als billige Hilfskräfte, so genannte „Computer“, beschäftigte. Sie hatten die Aufgabe, fotografische Platten auszuwerten, vor allem um die Helligkeiten von Sternen zu bestimmen.
„Pickering stellte seine Mitarbeiterinnen zum Arbeiten und nicht zum Denken ein“, bemerkte später eine von ihnen, Cecilia Payne. Sie entdeckte, dass die Sonne zum größten Teil aus Wasserstoff besteht. Swan Leavitt gehörte zu den wenigen Frauen aus dem „Pickering-Harem“, die sich erlaubten, aus den Daten Schlüsse zu ziehen. Drei weitere der Frauen, Williamina Fleming, Annie Jump Cannon und Antonia Maury, wurden durch ihre spektroskopischen Arbeiten bekannt.
Henriettas Gebiet war die Photometrie. Sie suchte nach Sternen, die periodisch ihre Helligkeit änderten. Im Laufe ihrer Auswertungen konnte sie rund 2400 veränderliche Sterne entdecken. Nachdem sie vier Jahre lang tausende von Platten bearbeitet hatte, schrieb sie 1896 ihre Ergebnisse vorläufig zusammen und brach zu einer zweijährigen Reise nach Europa auf. Bei ihrer Rückkehr suchte sie zunächst Pickering auf, um das Manuskript mit ihm zu besprechen. Dann fuhr sie zu ihrer Familie, die inzwischen nach Beloit in Wisconsin gezogen war, und nahm dort eine Stelle als Kunst-Lehrerin an. Als unverheiratete Frau von 32 Jahren musste sie ihren Lebensunterhalt verdienen. Offenbar hatte sie aber weiterhin vor, ihr Manuskript zu überarbeiten. Eine schwere Erkrankung im Winter nach ihrer Rückkehr vereitelte ihre Pläne.
Im Mai 1902 entschuldigte sie sich bei Pickering für ihr langes Schweigen. Sie habe einen Gehörschaden zurückbehalten, der sich bei kaltem Wetter und Anstrengungen der Augen verschlechtere. Nun wollte sie wissen, ob er eine Sternwarte oder Schule in einer milden Klimazone empfehlen könne. Pickering bot ihr daraufhin eine Vollzeitstelle in Harvard an, die es ihr ermöglichte, einen bescheidenen Lebensunterhalt zu bestreiten.
In einer ungeheuren Fleißarbeit untersuchte Leavitt ab 1902 insgesamt 299 Fotoplatten von 13 Teleskopen, um die Helligkeit von Standardsternen rund um den Himmelsnordpol zu bestimmen. Mithilfe logarithmischer Gleichungen ordnete sie die Sterne in 17 Größenklassen. Ihre Arbeit wurde 1913 vom International Committee on Photographic Magnitudes akzeptiert und war von da an als Harvard Standard bekannt.
Ihre wichtigste Entdeckung machte Henrietta Swan Leavitt, als sie sich zwischen 1904 und 1908 mit veränderlichen Sternen beschäftigte und bemerkte, dass man sie zur Messung von Entfernungen verwenden kann. Bis dahin war es nicht möglich, die Entfernung von Himmelsobjekten außerhalb eines Radius von etwa 150 Lichtjahren anzugeben, weil man die trigonometrische Parallaxe nicht mehr anwenden konnte. So gab es keinen Anhaltspunkt dafür, in welcher räumlichen Beziehung weit entfernte astronomische Objekte zueinanderstanden.
Leavitt untersuchte die Cepheiden in der großen und der kleinen Magellanschen Wolke auf Fotoplatten, die in den 1890er-Jahren in der Außenstation in Arquipa, Peru, aufgenommen worden waren. Sie entdeckte nicht nur 1777 Cepheiden, sondern konnte von 17 Cepheiden auch die Perioden bestimmen. Bereits in ihrer ersten Veröffentlichung bemerkte sie, dass die helleren Sterne längere Perioden haben. Dieses Ergebnis bestätigte sich in einer weiteren Untersuchung an 25 Cepheiden. Da die Entfernung der kleinen Magellanschen Wolke im Vergleich zu ihrer Ausdehnung groß ist, konnte Leavitt für die untersuchten Cepheiden die gleiche Entfernung annehmen. Das bedeutete, sie konnte deren scheinbare Helligkeit durch die absolute Helligkeit (Leuchtkraft) ersetzen und eine allgemein gültige Beziehung zwischen Periode und Leuchtkraft formulieren.
Schon ein Jahr nach der Veröffentlichung dieser Formel nahm der Däne Einar Hertzsprung am Astrophysikalischen Observatorium im Potsdam eine erste Eichung mithilfe von Delta-Cephei-Sternen aus der Umgebung der Sonne vor. So erhielt er für die kleine Magellansche Wolke eine Entfernung von 37.000 Lichtjahren. In den folgenden fünf Jahren erstellte der Astronom Harlow Shapley die erste Karte der Milchstraße als eine scheibenförmige Struktur aus Billionen Sternen, deren Zentrum von unserem Sonnensystem weit entfernt ist.
Bescheidene Anerkennung erhielt Leavitt als Ehrenmitglied der American Association of Variable Star Observers. Eine größere internationale Anerkennung blieb ihr verwehrt bzw. kam zu spät. Als ihr 1925 der schwedische Mathematiker Gösta Mittag-Leffler schrieb, er wolle sie für den Physik-Nobelpreis des Jahres 1926 vorschlagen, lebte sie bereits nicht mehr. Henrietta Swan Leavitt war 1921 im Alter von 53 Jahren an Magenkrebs gestorben. Ihre wichtigste Entdeckung ist aber weiterhin eines der unverzichtbaren Werkzeuge der kosmischen Entfernungsleiter.
Anne Hardy
Weitere Infos
- J. J. O'Connor und E. F. Robertson: Henrietta Swan Leavitt (MacTutor History of Mathematics Archive)
- George Johnson, Miss Leavitt's Stars. The Untold Story of the Woman Who Discovered How to Measure the Universe, W. H. Norton (2006)
- Webseite zu Lauren Gundersons Theaterstück „Silent Sky“, welches das Leben von Henrietta Swan Leavitt würdigt.