26.02.2024

Die Welt im Rechner

Verbundprojekt „DigiPrüF“ erstellt digitale Zwillinge für reale Objekte und Prozesse.

Sie schlagen eine Brücke zwischen der physischen und der digitalen Welt: die „digitalen Zwillinge“. Das sind virtuelle Modelle von Objekten, aber auch von Vorgängen. Als digitale Repräsentationen helfen sie bei der Entwicklung und Verbesserung von Materialien und Produkten, aber auch von Herstellungs- und Prüfprozessen. An der Universität Ulm entwickeln Mathematiker unter anderem Modelle für Batteriematerialien, für die Simulation von Prüfverfahren oder die Vorhersage von Abnutzungs- und Alterungsprozessen. Dabei nutzen sie Methoden aus der Stochastik und Numerik sowie jede Menge empirische Daten.


Abb.: Orkun Furat forscht an der Uni Ulm zur Generierung Digitaler Zwillinge...
Abb.: Orkun Furat forscht an der Uni Ulm zur Generierung Digitaler Zwillinge für Aktivpartikel aus Batterieelektroden.
Quelle: E. Eberhardt, U. Ulm

Ein fabrikneues Auto wird auf einem Kraftfahrzeugprüfstand so strapaziert, dass es danach nur noch Schrottwert hat. Die Prüfung kostet nicht nur eine Menge Geld, sondern auch Zeit. „Mit digitalen Zwillingen können nicht nur einzelne Prüfprozesse, sondern auch die gesamte Prüfinfrastruktur zeit- und kostensparend simuliert werden“, ist Karsten Urban überzeugt. Der Mathematiker leitet an der Universität Ulm das Institut für Numerische Mathematik. 

Urban ist Forschungspartner im Verbundprojekt „DigiPrüF“, das sich mit der Entwicklung einer digitalen Prüfplattform für Kraftfahrzeuge befasst. Dieses virtuelle Testcenter soll es Autoherstellern und Zulieferern möglich machen, die eigenen Produkte – digital nachgebildet in Simulationsmodellen – virtuell zu testen. Das spart Ressourcen und hilft dabei, Prüf- und Produktionsprozesse zu optimieren, wovon insbesondere mittelständische Unternehmen profitieren. „DigiPrüF“ wird von dem Neu-Ulmer Software-Unternehmen ATR koordiniert und vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) mit insgesamt 5,5 Millionen Euro unterstützt, 460.000 Euro davon gehen an die Uni Ulm.

Die Aufgabe der Ulmer Numeriker besteht insbesondere darin, ein generisches Modell für den Prüfvorgang zu entwickeln. „Das ist eine Art Baukastensystem aus unterschiedlichen mathematischen Modellen zur Abbildung verschiedener physikalischer Prozesse, die rund um die Fahrzeugprüfung von Bedeutung sind“, erklärt der Simulationsexperte. Weil hier sowohl deterministische als auch zufallsbedingte Prozesse und Phänomene erfasst werden müssen, kommen Methoden aus der Numerik und der Stochastik sowie Mischformen zum Einsatz. Ein anderes Teilprojekt widmet sich dem Thema Predictive Health Management. Dabei geht es um fortschrittliche Wartungs- und Kontrollstrategien zur Absicherung der Zuverlässigkeit von Prüfständen und Produktion, die mithilfe von Vorhersagemodellen realisiert werden.

Egal ob es um Fahrwerke oder Tragflächen von Flugzeugen, oder beispielsweise um Katalysatoren von Kraftfahrzeugen geht: Wir versuchen in der technischen Simulation immer den realen Lebenszyklus nachzubilden und deshalb spielt der Faktor Zeit eine wichtige Rolle“, sagt der Ulmer Numeriker, der seit vielen Jahren in einer Vielzahl von Projekten zur technischen Simulation von Materialalterungs- und Abnutzungsprozessen forscht. Die besondere Rolle der Mathematik besteht darin, die Genauigkeit, Zuverlässigkeit und Robustheit der Vorhersagen zu garantieren.

In der Batterieforschung werden digitale Zwillinge eingesetzt, um Speichermaterialien mit optimalen Eigenschaften zu finden; die zeitliche Dimension ist erst einmal nachrangig. Ulmer Wissenschaftler vom Institut für Stochastik entwickeln hierfür mathematische Strukturmodelle, die Rückschlüsse erlauben auf bestimmte chemisch-physikalische Eigenschaften wie Speichervermögen, Ladegeschwindigkeit oder Langlebigkeit. „Wir interessieren uns beispielsweise für die Rissbildung in Aktivmaterialien, die die Stabilität und Leistungsfähigkeit einer Batterie entscheidend beeinträchtigen kann“, erklärt Orkun Furat vom Institut für Stochastik der Universität Ulm. 

Der junge Mathematiker, der im letzten Jahr für seine Promotion über digitale Zwillinge in der Materialforschung den Südwestmetall-Preis erhalten hat, zeigt dabei auf eine röntgenmikroskopische Abbildung einer Batterieelektrode. Die Aktivmaterialien, in denen die Ionen während des Ladevorgangs eingelagert werden, sind als kreisrunde Flächen dargestellt, die mit Rissen durchzogen sind. „Auf der Grundlage empirischer Bild- und Messdaten versuchen wir, die Geometrie und Struktur unterschiedlicher Speichermaterialien möglichst realitätsgetreu zu modellieren und daraus Zusammenhänge zwischen Struktur und Eigenschaften der Materialien herzuleiten. Die dafür generierten Modelle werden dann immer wieder an die empirischen Gegebenheiten angeglichen, bis der digitale Zwilling kalibriert ist und passt“, erklärt Volker Schmidt vom Institut für Stochastik. Der Mathematiker, der die Promotion betreut hat, forscht seit vielen Jahren zur mathematischen Modellierung materialwissenschaftlicher Fragestellungen und kooperiert mit Batterieforschern aus Ulm und anderen Standorten in Deutschland, unter anderem im BMBF-Kompetenzcluster „ProZell“.

Die Kunst bei der Generierung solcher virtuellen Avatare besteht darin, relevante Kriterien zu bestimmen, die es möglich machen, aus den empirischen Daten aussagekräftige Informationen zu gewinnen. „Wir forschen ja nicht isoliert im Elfenbeinturm, sondern arbeiten eng zusammen mit Ingenieuren und Naturwissenschaftlern“, so die Ulmer Wissenschaftler Urban und Schmidt. Die Projektpartner legen im Vorfeld fest, welche Material- oder Prüfparameter für die Konstruktion der virtuellen Nachbildung von Belang sind. Über den Modellierungsprozess wird außerdem Komplexität reduziert, was wiederum Rechenprozesse massiv beschleunigt. Die Technologie der digitalen Zwillinge macht es außerdem möglich, Prozesse, Komponenten oder Stoffe zu optimieren und idealtypische Eigenschaften herauszuarbeiten. „So können beispielsweise Batteriematerialien hypothetisch generiert werden, die leistungsfähiger und langlebiger sind“, ergänzt Orkun Furat. 

Viele Forschungsprojekte zu digitalen Zwillingen laufen an der Universität Ulm über das UZWR. Das Ulmer Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen ist ein interdisziplinäres Forschungszentrum der Uni, das anwendungsorientierte Forschungsfragen aus der Wissenschaft und Wirtschaft mit modernen mathematischen Methoden bearbeitet. Die Mitarbeiter des Zentrums nutzen numerische und stochastische Berechnungen für die Simulation und Optimierung von Prozessen, Materialien und Komponenten. Ob überregionale Industriepartner oder Firmen aus der Region – mittlerweile gibt es eine Vielzahl an Kooperationspartnern aus der Wirtschaft, mathematisch modelliert wird aber auch für die Naturwissenschaften. 

Schwerpunkt im Angebot des UZWR sind technische Simulationen beispielsweise zur Spannungs-, Strömungs- und Schwingungsanalyse sowie zur Festigkeits- oder Dynamikprüfung. Karsten Urban ist Sprecher des Zentrums, Geschäftsführer ist Ulrich Simon. Ein Spin-Off von UZWR-Mitarbeitern ist OSARA. Das Startup wurde in Zusammenarbeit mit Forschenden aus dem Institut für Unfallchirurgische Forschung und Biomechanik gegründet, um Frakturheilungsprozesse mit Hilfe von digitalen Zwillingen zu simulieren.

U. Ulm / DE

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