Exotische Kristalle aus Rotoren
Eine umfassende Theorie kann eine Vielzahl neuer Eigenschaften solcher transversal wechselwirkender Systeme vorhersagen.
Es klingt kurios, aber es gibt sie: Kristalle, die aus rotierenden Objekten bestehen. Physiker aus Aachen, Düsseldorf, Mainz und von der Detroiter Wayne State University haben zusammen diese exotischen Objekte und ihre Eigenschaften untersucht. Sie können leicht in einzelne Bruchstücke zerfallen und besitzen seltsame Korngrenzen und Fehlstellen, die gezielt gesteuert werden können. Die Forscher haben ermittelt, wie mit einer umfassenden Theorie eine Vielzahl neuer Eigenschaften solcher transversal wechselwirkender Systeme vorhergesagt werden können.

Transversale Kräfte können in synthetischen Systemen auftreten, beispielsweise in bestimmten magnetischen Festkörpern. Es gibt sie aber auch in Systemen aus lebenden Organismen: In einem Experiment am MIT in den USA mit sehr vielen schwimmenden Seestern-Embryonen wurde beobachtet, dass sich diese Embryonen durch ihre Schwimmbewegungen gegenseitig beeinflussen und dadurch umeinander rotieren. Die biologische Funktion dieses Effekts ist bislang nicht verstanden. Gemeinsam ist all diesen Systemen, dass sie sich aus rotierenden Objekten zusammensetzen.
Hartmut Löwen von der HHU: „Ein System aus vielen rotierenden Bausteinen weist ein qualitativ neues Verhalten auf, das der normalen Intuition widerspricht: Bei hoher Konzentration bilden diese Objekte einen Festkörper aus Rotoren, der ‚schräge‘ Materialeigenschaften besitzt.“
An einem Beispiel für „schräge Elastizität“ wird klarer, was mit „schräg“ gemeint ist: Wird an einem herkömmlichen Material gezogen, dann verformt es sich in Richtung des Zugs; ein schräg-elastisches Material verformt sich dagegen nicht, sondern es verdreht sich.
Auch kann ein „schräger“ Festkörper spontan in viele rotierende Kristallite zerfallen, wenn seine Bausteine so sehr aneinander reiben, dass sie Fragmente bilden. Bemerkenswerterweise kann sich der Kristall nicht nur selbst in Stücke zerlegen, sondern auch selbst wieder zusammensetzen.
Ein Physikerteam um Zhi-Feng Huang von der Wayne State und Prof. Löwen hat für solche schrägen Kristalle eine skalenübergreifende Theorie entwickelt. Nach Modellrechnungen mit Hilfe dieser Theorie zogen sie Schlussfolgerungen für neue Anwendungspotentiale solcher seltsamen Festkörper.
Sie zeigten, dass große transversal wechselwirkende Kristalle intrinsisch in rotierende kleine Kristalleinheiten zerfallen werden. Kleinere Kristalle dagegen wachsen, bis sie eine kritische Größe erreichen. Dieses Verhalten steht im Widerspruch zu normalem Kristallwachstum, das bei günstigen thermodynamischen Bedingungen dazu führt, dass immer größer werdende Kristalle ausreifen.
Prof. Huang: „Wir haben ein dem Prozess zugrundeliegendes fundamentales Naturgesetz entdeckt. Es beschreibt, wie die Größe der kritischen Bruchstücke und ihre Rotationsgeschwindigkeit zusammenhängen.“ [HHU / dre]
Weitere Informationen
- Originalveröffentlichung
Z.-F. Huang, M. te Vrugt, R. Wittkowski, H. Löwen, Anomalous grain dynamics and grain locomotion of odd crystals, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 122(42) e2511350122, 17. Oktober 2025; DOI: 10.1073/pnas.2511350122 - Microstructures and dynamics of complex materials (Zhi-Feng Huang), Department of Physics and Astronomy, Wayne State University, Detroit, MI
- Soft Matter (Hartmut Löwen), Institut für Theoretische Physik II, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
- KOMET 1 (Michael te Vrugt), Institut für Physik, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
- Theory of Active Soft Matter (Raphael Wittkowski), DWI – Leibniz-Institut für Interaktive Materialien, RWTH Aachen













