Experimentator mit Kernkompetenz
Ernest Rutherford erklärte den Ursprung der Radioaktivität, entwickelte ein Atommodell und induzierte die erste Kernreaktion.
Am 30. August 1871 wurde Ernest Rutherford auf der Südinsel Neuseelands geboren. Er wuchs in einer kinderreichen Familie in einer ländlichen Region auf. Im Alter von 16 Jahren besuchte er Dank eines Stipendiums das College, um anschließend an der University of New Zealand in Wellington zu studieren. Vier Jahre später graduierte er mit exzellenten Noten in Physik und Mathematik. Schon seine ersten Forschungsarbeiten zeichnen ihn als hervorragenden und originellen Experimentator aus.
Ein weiteres Stipendium führte ihn ans Trinity College in Cambridge zu Joseph John Thomson. Hier zeigte Rutherford, dass Uran Alpha- und Beta-Strahlen aussendet. Thomson hielt ihn für einen seiner besten Schüler. 1898 zog Rutherford weiter nach Kanada, wo er an der McGill University in Montreal seine erste Professur antrat. Hier formulierte er gemeinsam mit Frederick Soddy die Theorie des radioaktiven Zerfalls. Auch Otto Hahn, ein lebenslanger Freund, gehörte 1905/06 zu seinen Mitarbeitern. Rutherford öffnete seinen Arbeitskreis auch für Frauen und legte Wert auf Interdisziplinarität.
1907 kehrte Rutherford nach England zurück und wurde Professor an der Universität Manchester. Dort entwickelte er mit Hans Geiger zwei Methoden zum quantitativen Nachweis von Alpha-Teilchen: Szintillations-Schirme auf der Basis von Zinksulfid und Ionisationskammern. 1908 erhielt Rutherford den Chemie-Nobelpreis für seine Arbeiten zum radioaktiven Zerfall. Die berühmten Goldfolien-Experimente, durchgeführt von Hans Geiger und Ernest Marsden von 1908 bis 1913, bildeten die Basis für Rutherfords Atommodell, dass ab 1912 sein Gastwissenschaftler Nils Bohr weiterentwickelte.
Rutherford sprühte vor Ideen: 1913 bestrahlte er mit Henry Moseley verschiedene Atome mit Kathodenstrahlen (Elektronen-Strahlen) und wies die charakteristischen Röntgenspektren der Elemente nach; 1919 beschoss er Stickstoff mit Alpha-Teilchen. Sein Mitarbeiter Patrick Blackett zeigte wenig später mithilfe der Nebelkammer, dass dabei Sauerstoff-Isotope entstanden. Diese „moderne Alchimie“ räumte mit der Vorstellung beständiger, unwandelbarer Atome endgültig auf.
1919 erreichte Rutherford den Höhepunkt seiner akademischen Laufbahn als Nachfolger J. J. Thomsons an den Cavendish Laboratories. Dort inspirierte er seine Mitarbeiter zu wegweisenden Experimenten, unter ihnen die späteren Nobelpreisträger Patrick Blackett, James Chadwick, John Cockrofft und Ernest Walton.
Weniger bekannt ist der besondere Bezug Rutherfords zur Universität Göttingen, an der sein Freund Max Born lehrte. Die beiden lernten sich 1927 bei der Volta Konferenz in Como kennen, eine der ersten internationalen Konferenzen nach dem Ersten Weltkrieg. Beide waren vor der Hitze im Vortragsraum geflüchtet und beschlossen, mit einem gemieteten Auto am See entlang zu fahren. Beim Mittagessen und auf der Fähre lernten sie sich fachlich und menschlich schätzen. 1931, als Max Born Dekan in Göttingen war, verlieh er seinem Freund die Ehrendoktorwürde der Universität. Von Rutherfords Vorlesung ist eine Tonaufnahme erhalten. Sie ist das einzige Dokument seines legendären Vortragsstils.
Weil die Göttinger Zeitung den Besuch des Nobelpreisträgers angekündigt hatte, waren am 14. Dezember alle Eingänge zum Physikgebäude in der Bunsenstraße verstopft. Damit hatte Born nicht gerechnet: „In dem etwa 400 Menschen fassenden Hörsaal sind schätzungsweise 700 Menschen gewesen. Meine Kollegen (...) und ich haben bis 5 1/4 Uhr die ersten Reihen des Auditoriums für die Kollegenschaft und die Gäste freigehalten. (...) Um 5 h. c. t. haben wir die noch freien Sitze freigegeben und überdies sämtliche (Sche-)mel und Stühle unserer Institute in den Saal gebracht, um Sitzgelegenheiten zu schaffen.“
Das Tondokument der Rutherford-Vorlesung gehört heute zum Bestand des Physikalischen Museums der Universität Göttingen. Die Aufnahme hat vermutlich Robert Wichard Pohl in Auftrag gegeben oder er hat sie selbst gemacht mithilfe eines Kurbelgrammophons. Der Vortrag füllte mehrere Aufnahmeplatten, sodass Teile fehlen; Gäste erhielten die Platten als Andenken. Rutherfords Schüler sorgten später für die Vervielfältigung auf Schellak-Platten, von denen 23 Sets erhalten sind. 2011 hat die Royal Society of New Zealand das Tondokument im Internet verfügbar gemacht. Ein Transkript findet sich im Archiv der Royal Society, London.
Die Göttinger Zeitung berichtete am folgenden Tag: „Prof. Born war im feierlichen Dekanatsornat, begleitet von Pedellen in roter Amtstracht, erschienen. Er teilte der Versammlung den einstimmig gefassten Entschluss der Fakultät mit, Lord Rutherford die Würde eines Doktors der Philosophie ehrenhalber zu verleihen.“ Den Vortrag „Alpha-Teilchen großer Reichweite und die Entstehung von Gamma-Strahlen“ hielt Rutherford auf Englisch, eine vierseitige Zusammenfassung auf Deutsch lag vor.
Rutherfords Vortrag fand kurz vor dem Nachweis des Neutrons statt. Ende 1931 vermutete er, dass Gamma-Strahlen bei Energieübergängen von Alpha-Teilchen im Atomkern entstehen. Dabei verwies er auf die Arbeiten des Russen George Gamow, der 1928 mehrere Monate bei Max Born in Göttingen gearbeitet hatte. Gamow hatte die Quantentheorie auf den Atomkern angewandt, indem er für die Nukleonen ähnlich quantisierte Energiezustände einführte wie für die Elektronen der Atomhülle. Nach seiner Zusammenarbeit mit Nils Bohr war Gamow 1929 zu Rutherford nach Cambridge gegangen. Er hatte ausgerechnet, dass niederenergetische Projektile relativ leicht durch die Kerne tunneln können und sich so – ähnlich wie das Licht in Atomspektren – zum Anregen der Kernteilchen nutzen lassen.
Mit dem Beschleuniger, an dem sein Mitarbeiter John Cockcroft arbeitete, wollte Rutherford diese Frage angehen. Schon wenige Monate nach dem Göttinger Vortrag konnte Cockroft zusammen mit Walton leichte Kerne mit beschleunigten Protonen spalten. Rutherford sollte in den folgenden Jahren seine Beziehungen zur Wirtschaft nutzen, um Linearbeschleuniger und Zyklotrone mit höheren Energien zu realisieren.
Bei seinem Vortrag in Göttingen stand Rutherford an der Schwelle zu einem tieferen Verständnis der Atomphysik: „These fundamental things I think have got to be fairly simple, but the non-fundamental things are very complex usually. So we are hopefull. We must look for simplicity in the system first. And if the simplicity... we can´t find it, well, we got to look at something more complex. I am always a believer in simplicity, being a simple person myself.“
Zu seinem 60. Geburtstag würdigte Otto Hahn seinen Freund Rutherford in der Zeitschrift „Die Naturwissenschaften“: „Jeder, der das Glück gehabt hat, direkt unter oder mit ihm arbeiten zu können, hat den bezaubernden Einfluß seines hinreißenden Temperaments mit Freude erlebt und sozusagen etwas davon auf sich selbst überspringen gefühlt.“
Als Rutherford mit 66 Jahren unerwartet an den Folgen eines Nabelbruchs starb, schrieb sein ehemaliger Lehrer J. J. Thomson: „His death just on the eve of his having in the High-Tension Laboratory means of research far more powerful than those with which he had already obtained results of profound importance is, I think, one of the greatest tragedies in the history of science.“
Anne Hardy
Weitere Infos
- Chemie-Nobelpreis 1908 für Ernest Rutherford
- E. Rutherford, Radioactive Substances and their Radiations. Cambridge University Press 1913 (Internet Archive)
- E. Rutherford, The Natural and Artificial Disintegration of the Elements (1924) (Internet Archive)
- E. Marsden, The Rutherford Memorial Lecture 1954: Rutherford – His Life and Work (1954)
- Ernest Rutherford: Meeting a Simple Man
- S. Lüders, Tonspurerhaltung unter Medientransformation. Ausarbeitung zum Tondokument aus dem Jahr 1931. Verleihung der Ehrendoktorwürde an Ernest Rutherford durch Max Born an der Universität Göttingen PDF
- Webseite zu Rutherfords Göttinger Vorlesung von Robin Marshall
Weitere Beiträge
- D. R. Herschbach, M. O. Scully und A. A. Svidzinsky, Bohrs Comeback, Physik Journal, Jui 2012, S. 37 PDF
- A. Faessler und J. Wambach, Rutherfords Erbe, Physik Journal, Oktober 2011, S. 35 PDF
- S. Fengler und Ch. Forstner, Von der Radiumforschung zur Kernphysik, Physik Journal, Februar 2011, S. 35 PDF
- H. Kant, Betrachtungen zur Frühgeschichte der Kernphysik, Physikalische Blätter 52, 233 (1996) PDF
- O. Haxel, Erinnerungen an Hans Geiger, den Vater der Zählmethoden, Physikalische Blätter 38, 296 (1982) PDF
AP