Mehr Quark für Mister Standard
Das Jahr 2014 brachte einige hochenergetische Entwicklungen mit sich, die die Grenzen des Standardmodells weiter hinausschieben.
Das Higgs-Boson ist entdeckt, das Standardmodell abgeschlossen. Das Ende der Physik ist wieder einmal nahe. Oder doch nicht? Abgesehen von theoretischen Fragen zur Vereinheitlichung der Naturgesetze treibt die Teilchen- und Astroteilchenphysiker auch die Frage um, ob die modernen Quantentheorien wirklich so hieb- und stichfest sind, wie es scheint. Und auch dieses Jahr brachte einige Überraschungen mit sich, die das Standardmodell der Teilchenphysik zwar nicht erschüttern, aber weiteren Überprüfungen zugänglich machen.
Abb.: Seitliche Ansicht des LHCb-Detektors (Bild: D. Eidemüller)
Ein wichtiger Punkt dabei ist die Symmetrie von Materie und Antimaterie. So ist es dem Asacusa-Experiment am Europäischen Kernforschungszentrum CERN gelungen, einen neutralen Strahl aus Antiwasserstoff-Atomen zu produzieren. Die Forscher konnten ihn mehr als 2,7 Meter weit schicken – weit außerhalb der störenden Magnetfelder, die Präzisionsmessungen wie etwa den Hyperfeinübergang schwierig machen. Das Alpha-Experiment am CERN hat sich hingegen der elektrischen Ladung von Antiwasserstoff angenommen. Er ist erwartungsgemäß neutral, wie extrem präzise Messungen zeigen.
Ebenfalls am CERN wunderten sich die Wissenschaftler der LHCb-Kollaboration zunächst, als sie tiefer in ihre Daten schauten und Quarkzustände aus mehr als drei Quarks ausfindig machten. Früher waren als hadronische Materie in der Teilchenphysik nur Baryonen aus drei oder Mesonen aus zwei Quarks bekannt. Messungen des japanischen Belle-Experiments aus den letzten Jahren sowie des chinesischen Beijing Spectrometer III hatten bereits Hinweise auf kurzlebige Quarkzustände aus vier oder mehr Quarks geliefert. Die Quantenfeldtheorie verbietet solche Zustände zwar nicht, kann bislang aber keine schlüssige Erklärung für sie liefern. Es könnte sich um eine kurzzeitige exotische Quark-Resonanz zweier farbneutraler Mesonen handeln – oder um einen neuartigen Materiezustand, die Tetraquarks. Zumindest eines scheint klar: Der minimale Quarkzustand dieser Resonanz besteht aus je einem Charm-, Anticharm-, Down- und Antiup-Quark. Und der Teilchenzoo ist noch weiter gewachsen: Nicht nur im Vierer- oder Fünferpack können Quarks unterwegs sein, sondern auch im Sechserpack, wie bei der sogenannten Dibaryon-Resonanz.
Wie schon diese Entdeckungen zeigen, ist auch im Rahmen des Standardmodells einiges möglich, was sich angesichts der Komplexität der Theorie kaum berechnen und voraussagen lässt. Das gilt natürlich auch für das Quark-Gluon-Plasma, den Materiezustand, der unser Universum kurz nach dem Urknall ausfüllte. Wissenschaftler am CMS-Detektor des CERN nutzten deshalb Blei-Blei-Kollisionen, um diese ultraheiße Quarksuppe genauer zu untersuchen. Dazu analysierten sie die Jets, die sich bei einigen Kollisionen entwickeln. Im Gegensatz zu manchen gängigen Modellen ergab sich, dass ein solches Quark-Gluon-Plasma verschieden schwere Quarks ähnlich stark abschwächt und damit wie eine universelle Bremse wirkt. Aber auch andere Experimente, wie etwa zur Händigkeit der schwachen Kopplung von Quark-Spins, liegen völlig im Rahmen des Standardmodells.
Atomkerne lassen sich aber nicht nur zerschießen, sondern auch fusionieren, am liebsten kontrolliert. Auf dem Weg zur Kernfusion sind Wissenschaftler am Lawrence Livermore National Laboratory einen wichtigen Schritt weitergekommen. Mittels laserbefeuerter Trägheitsfusion gelang es ihnen erstmals, einen Energiegewinn im Brennstoff zu erreichen.
Abb.: Seitenansicht des Fusionszylinders: Durch das Loch ist das vergoldete Innere des Hohlraums zu sehen. (Bild: E. Dewald, LLNL)
Eine große Überraschung für die Teilchenphysik wäre gewiss der Nachweis eines Majorana-Fermions. Diese 1937 vom italienischen Theoretiker Ettore Majorana postulierten Partikel besitzen die besondere Eigenschaft, ihre eigenen Antiteilchen zu sein. Sie treten etwa in einigen supersymmetrischen Theorien als Kandidaten für Dunkle Materie auf, ließen sich bislang jedoch nicht nachweisen. Interessant zum Studium der Eigenschaften dieser exotischen Gebilde könnten deshalb Ansätze aus der Festkörperphysik sein, Majorana-Fermionen mit geeigneten Materialien nachzubilden. Wenn man etwa einen Supraleiter mit einem topologischen Isolator kombiniert, entsteht ein topologischer Supraleiter, der einerseits die für einen Supraleiter typische Bandlücke besitzt, andererseits aber auch eine ungewöhnliche Bandstruktur. In der Mitte der Bandlücke können Nullpunkts-Anregungen als gemeinsamer Zustand von Elektronen und Löchern vorkommen, die elektrisch neutral sind und damit die Majorana-Kriterien erfüllen. Forscher an der Princeton University konnten solche Majorana-Fermionen an Eisen-Nanodrähten auf einem ultrareinen Blei-Einkristall nachweisen.
Auch von Neutrinos hat man lange vermutet, dass sie Majorana-Teilchen sein könnten. Als ihre eigenen Antiteilchen müssten sie dann mit sich selbst annihilieren können, was gewöhnlichen Fermionen verwehrt ist. Experimente wie EXO-200 suchen deshalb bei bestimmten radioaktiven Prozessen nach neutrinolosen doppelten Betazerfällen, bislang ist die Suche nach der Doppelnatur von Neutrinos jedoch vergeblich.
Abb.: Das Innere des für Wartungsarbeiten trockengelegten Detektors Super-Kamiokande (Bild: U. Tokyo)
Mittlerweile wohlbekannt ist die Eigenschaft von Neutrinos, sich ständig in andere Neutrinoarten zu verwandeln. Solche Neutrino-Oszillationen hat man in den letzten Jahren zunehmend präzise vermessen können, hauptsächlich in der Nähe großer Kernkraftwerke. Das größte Kraftwerk und damit die größte Neutrinoquelle in unserer Umgebung ist jedoch die Sonne. Und das größte Target natürlich die Erde. Wie Messungen am japanischen Superkamiokande-Detektor ergeben haben, oszillieren Neutrinos beim Durchgang durch die Erde anders als im luftleeren Raum. Die Neutrinozählrate war nachts signifikant größer als tagsüber. Auch dies lässt sich im Rahmen des Standardmodells beschreiben. Die Herkunft der solaren Neutrinos hingegen war theoretisch lange klar: Die meisten stammen aus dem Proton-Proton-Zyklus, wie das Neutrinoobservatorium Borexino nun auch experimentell nachweisen konnte.
Woher die höchstenergetischen kosmischen Teilchen stammen, war lange Zeit jedoch ebenso unbekannt wie ihr Erzeugungsmechanismus. Zumindest eine Ursprungsregion konnte die Kollaboration des Telescope Array in der Steppe von Utah nach mehrjähriger Suche nun angeben. Ein Hotspot für Teilchen der höchsten Energie-Kategorie liegt etwa bei der Deichsel des großen Wagens. Auch dies spricht gegen Vorgänge jenseits des Standardmodells, denn die Vorzugsrichtung solch energiereicher Partikel stimmt mit der Masseverteilung bekannter Materie im Universum überein. Dort liegt insbesondere ein aktiver Blasar, Markarjan-421, dessen Jet in Richtung Milchstraße zeigt. Außerdem befinden sich ungefähr in dieser Richtung auch der Virgo-Superhaufen und der Coma-Galaxienhaufen.
Zumindest 2014 hat das Standardmodell also noch gehalten. Der LHC wird aber nach einer längeren Umrüstphase kommendes Jahr wieder in Betrieb gehen und dann endlich die maximale Energie erreichen, für die er ausgelegt ist. Freunde neuer Physik dürfen auf 2015 gespannt bleiben.
Dirk Eidemüller
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