09.07.2021

Neutrino-Jagd auf Grönland

Pionier-Projekt weist Neutrinos mit Radioantennen nach.

Im grön­ländischen Eis lauscht künftig eine weltweit einzig­artige Anlage nach extrem schwer fassbaren Teilchen aus dem Weltall: Das Pionier-Projekt „Radio Neutrino Obser­vatory Greenland“ (RNO-G) verwendet eine neue Messmethode, um sehr energie­reiche kosmische Neutrinos mit Radioantennen nachzuweisen. An der Forschungsstation Summit Station haben die Wissenschaftler des Projekts jetzt die ersten Antennen­stationen im Eis installiert.

Abb.: Blick auf die erste Station des Radio-Neutrino-Obser­vatoriums auf dem...
Abb.: Blick auf die erste Station des Radio-Neutrino-Obser­vatoriums auf dem grön­ländischen Eis. Die roten Fahnen markieren unter­irdische Antennen. (Bild: C. Deaconu, RNO-G)

„Neutrinos entstehen in rauen Mengen im All, vor allem bei energiereichen Prozessen wie kosmischen Teilchen­beschleunigern. Sie sind aber kaum nachweisbar, weil sie so gut wie nie mit Materie reagieren. Allein von der Sonne durchqueren pro Sekunde rund sechzig Milliarden Neutrinos unbemerkt jeden fingernagel­großen Fleck auf der Erde“, erklärt Desy-Physi­kerin Anna Nelles, die das Projekt mit initiiert hat. Die Elementar­teilchen fliegen problemlos durch Wände, die Erde und ganze Sterne. „Diese Eigenschaft macht sie interessant für die Astrophysik, weil sich mit ihnen beispiels­weise auch ins Innere explodierender Sonnen oder in verschmelzende Neutronen­sterne blicken lässt, woher kein Licht zu uns gelangen kann“, sagt Nelles, die auch Professorin an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg ist. „Zudem lassen sich mit Neutrinos natürliche kosmische Teilchen­beschleuniger aufspüren.“

Nur extrem selten wechselwirkt ein Neutrino jedoch mit der durchquerten Materie, wenn es – zum Beispiel im grönländischen Eisschild – zufällig auf ein Atom stößt. Bei einer solchen seltenen Kollision entsteht eine Lawine von Folgeteilchen, von denen viele im Gegensatz zum Neutrino elektrisch geladen sind. Diese geladenen Folge­teilchen erzeugen Radio­wellen, die von den Antennen aufgefangen werden können. „Der Vorteil von Radiowellen ist, dass Eis für sie ziemlich durchsichtig ist“, erläutert Physiker Christoph Welling, der zurzeit Teil des Projektteams auf Grönland ist. „Das heißt, wir können Radio­signale über Distanzen von einigen Kilometern detektieren.“ Je höher die Reichweite, desto größer das Volumen im Eis, das sich überwachen lässt, und desto größer die Chance, eine der seltenen Neutrino­kollisionen aufzuspüren. „RNO-G wird der erste Radio-Neutrino­detektor im großen Maßstab sein“, sagt Welling. Zuvor hatten kleinere Versuche bereits gezeigt, dass der Nachweis kosmischer Teilchen über Radiowellen grund­sätzlich möglich ist.

Insgesamt 35 Antennen­stationen sollen mit einem Abstand von je 1,25 Kilometern rund um die Summit Station auf dem mächtigen grönländischen Eisschild installiert werden. Trotzdem kann es Monate oder sogar Jahre dauern, bis der Detektor anschlägt. „In der Neutrino­forschung braucht man Geduld“, erläutert Nelles. „Hochener­getische Neutrinos lassen sich ungemein selten auffangen. Aber wenn man eines erwischt, dann ist der Informations­gehalt unglaublich.“ Die Forscherinnen und Forscher denken dabei auch schon an den nächsten Schritt, denn der nächste Radio-Neutrino­detektor soll später buchstäblich am anderen Ende der Welt aufgebaut werden und das Neutrino-Teleskop IceCube am Südpol ergänzen.

Dort hat ein inter­nationales Konsortium rund 5000 empfindliche optische Messgeräte kilometer­tief ins ewige Eis einge­schmolzen. Diese Photo­multiplier spähen nach einem schwachen bläulichen Flackern, das ebenfalls von den energiereichen Folgeteilchen einer seltenen Neutrino­kollision erzeugt wird, wenn diese durchs unterirdische Eis rasen. Auf diese Weise sind IceCube bereits spektakuläre Beobach­tungen von Neutrinos gelungen, die beispielsweise aus dem Umfeld eines gigantischen Schwarzen Lochs oder von einem zerrissenen Stern stammten. Die Leuchtsignale der unterirdischen Folgeteilchen lassen sich im Eis nicht so weit verfolgen wie die Radiowellen. Dafür schlagen die Photo­multiplier bereits bei niedrigeren Energien der kosmischen Neutrinos an. „Je höher die Energie, desto seltener werden die Neutrinos. Das heißt, man braucht größere Detektoren“, erläutert Desy-Forscherin Ilse Plaisier aus dem Installations­team auf Grönland. „Die beiden Systeme ergänzen sich ideal: Das optische IceCube-Detektorgitter misst etwa bis zu einer Neutrino­energie von einer Billiarde Elektronen­volt, das Radio-Antennenfeld wird ab rund zehn Billiarden bis zu hundert Trillionen Elektronenvolt empfindlich sein.“ 

RNO-G wird mindestens fünf Jahre auf dem grön­ländischen Eis stehen bleiben. Die Stationen funktionieren autonom mit Solarzellen und sind per Mobilfunk untereinander vernetzt. Auf Grundlage dieses Betriebs soll dann der Neutrino­detektor IceCube am Südpol im Rahmen des Ausbaus zu Generation 2 (IceCube-Gen2) mit Radioantennen erweitert werden. „Der Nachweis von Radiosignalen von hochener­getischen Neutrinos ist ein sehr vielversprechender Weg, den zugänglichen Energie­bereich deutlich zu vergrößern und damit das neue Fenster zum Kosmos noch weiter zu öffnen“, betont Desy-Direktor für Astroteilchen­physik, Christian Stegmann. „Wir gehen diesen Weg über erste Testaufbauten auf Grönland, um dann auch Radio­antennen am Südpol als Teil von IceCube-Gen2 zu installieren.“

Desy / JOL

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