Quantenoptik mit Kernphysik verknüpfen
Überblick über Fortschritte in der nuklearen Photonik.
„Wo im Universum, und vor allem wie, werden die uns bekannten chemischen Elemente erzeugt?“ gehört zu den grundlegenden Fragestellungen in der Kernphysik. Neue Einblicke und Antworten, vor allem in den Aufbau von Kernmaterie, liefert das junge Forschungsgebiet „Nukleare Photonik“. Nun haben Forschende unter Beteiligung der TU Darmstadt den aktuellen Forschungsstand und potentielle Anwendungen in Industrie und Technik zusammengefasst.
Die nukleare Photonik ist ein Forschungsgebiet, das moderne Höchstleistungslaser nutzt und dabei Teilgebiete der Optik mit der Kernphysik verbindet. Bestandteil der nuklearen Photonik sind Präzisionsmessungen von photonuklearen Reaktionen. Darunter versteht man die Wechselwirkung von hochenergetischen Photonen mit Atomkernen. Diese Form der Kernreaktionen erlaubt besonders präzise Einblicke in die Struktur und Eigenschaften von Kernmaterie und ermöglicht wichtige experimentelle Forschungsmethoden für grundsätzliche Fragestellungen. Im Zuge des Loewe Programms des Landes Hessen wurde 2019 an der TU Darmstadt der Loewe-Schwerpunkt für nukleare Photonik eingerichtet, um Darmstadt – und vor allem Hessen – als einen der führenden Forschungsstandorte in diesem neuen Forschungsfeld zu festigen und auszubauen.
Die Europäische Union fördert zudem den Aufbau einer europäischen Infrastruktur für Höchstleistungslaser im Rahmen der europäischen „Extreme Light Infrastructure“ (ELI). ELI ist ein Verbund aus drei großen Forschungseinrichtungen, die derzeit in Bukarest (Rumänien, ELI-Nuclear Physics), Prag (Tschechien, ELI-Beamlines) und Szeged (Ungarn, ELI-ALPS) errichtet werden und an deren Planung und Aufbau Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der TU Darmstadt beteiligt sind.
Den Forschungsstand der nuklearen Photonik haben nun Forschende des Instituts für Kernphysik der TU Darmstadt gemeinsam mit Kollegen der Universität zu Köln und des ELI-NP in Bukarest zusammengefasst. Physikalische Grundlagen zu Kernreaktionen mit Photonen werden detailliert vorgestellt, um Nachwuchswissenschaftler einen Einstieg in die Thematik und einen umfassenden Überblick zu bieten und somit die Physiker der Zukunft für dieses Forschungsfeld zu begeistern.
Photonukleare Reaktion erlauben Präzisionsmessungen in der Kernstrukturphysik, die mit bisherigen Methoden noch nicht möglich waren. Beispiele hierfür sind die erstmalige Vermessung von zuvor nur theoretisch postulierter Mehrteilcheneffekte zu elektromagnetischen Zerfallsprozessen in Atomkernen, das Studium der Quanteneigenschaften von Materialien, die für den quantitativen Nachweis von Neutrinos benötigt werden oder die Häufigkeitsbestimmung unterschiedlicher geometrischer Verformungen, die schwere Atomkerne wie etwa Uran- oder Plutoniumkerne durchlaufen, wenn sie spalten und dabei Energie freisetzen.
So gelang es beispielsweise jüngst dem Team an der TU Darmstadt, die Halbwertszeit eines Kernzustands mit einer Genauigkeit von einer Attosekunde zu bestimmen. Diese Genauigkeit der Zeitmessung entspricht der Zeit, in der Licht gerade eine Strecke von einem Atomdurchmesser zurücklegt. Derartige Genauigkeiten können prinzipiell nur noch mit kernphysikalischen Methoden erzielt werden. Die Forschenden hoffen, dass photonukleare Reaktionen, und die auf ihr beruhenden neuartigen Messmethoden, zur Lösung von drängenden wissenschaftlichen Problemen der Gegenwart beitragen können, beispielsweise ob sehr langlebiger, zehntausende von Jahren radioaktiver Abfall in vergleichsweise kurzlebige Produkte umgewandelt werden kann, die nur noch einige Dutzend bis Hundert Jahre signifikant strahlen und geschützt verwahrt werden müssen.
Mit den nochmals um Größenordnungen erhöhten Intensitäten der Photonenstrahlen, die ab dem Jahr 2023 am ELI-NP verfügbar sein werden, wird es dann erstmals möglich sein, auch sehr seltene stabile und langlebige radioaktive Isotope mit bislang nicht erreichter Präzision zu studieren. Insbesondere durch die Bandbreite der Photonenstrahlen können einzelne Kernanregungen separiert und untersucht werden. Hierzu werden an der TU Darmstadt hochsensitive Messverfahren weiterentwickelt. Die erwarteten hochpräzisen experimentellen Daten werden dabei helfen, die Eigenschaften von Atomkernen, ihre Entstehung im Universum und ihre Nutzung als Quantenlabors für den Nachweis weiterer, unter Umständen noch unbekannter Elementarteilchen oder die zukünftige Behandlung des kommerziellen radioaktiven Abfalls besser zu verstehen. Für die langfristige Entwicklung des Felds wird bereits an einer noch leistungsfähigeren Anlage für photonukleare Reaktionen geforscht.
TU Darmstadt / JOL