01.09.2008

Ring frei für den LHC

Ring frei für die größte Forschungsmaschine der Welt: Der Teilchenbeschleuniger LHC (Large Hadron Collider) soll Physikern den Urknall näher bringen als jemals zuvor.

Ring frei für den LHC

Genf/Hamburg (dpa) - Ring frei für die größte Forschungsmaschine der Welt: Der Teilchenbeschleuniger LHC (Large Hadron Collider) soll Physikern den Urknall näher bringen als jemals zuvor. Mit unerreichter Wucht werden dazu in dem 27 Kilometer langen Ringtunnel Atomkerne aufeinander geschossen. 600 Millionen Mal pro Sekunde wird dieser Mini-Urknall künftig stattfinden. Am 10. September 2008 sollen die ersten Atomkerne testweise in der ringförmigen Teilchenschleuder kreisen. Offiziell wird der drei Milliarden Euro teure Beschleuniger des europäischen Teilchenforschungszentrums CERN am 21. Oktober 2008 in Betrieb genommen.

Der LHC ist ein Experiment der Superlative: Er ist laut CERN die größte Maschine, die Menschen je gebaut haben. In dem Beschleuniger ist es mit minus 271,3 Grad Celsius etwas kälter als im Weltall (minus 270,4 Grad). Gleichzeitig wird es bei den Atomkernkollisionen - auf winzigem Raum - 100 000 Mal heißer als im Zentrum der Sonne. Ein Magnetfeld, 100 000 Mal stärker als das irdische, zwingt die Teilchen auf die Kreisbahn. Der Strombedarf ist mit 120 Megawatt so groß wie derjenige der nahen 160 000-Einwohner-Stadt Genf. Die Wasserstoff-Atomkerne (Protonen) erreichen 99,9999991 Prozent der Lichtgeschwindigkeit, jede Sekunde drehen sie 11 245 Runden im unterirdischen Ring und legen 299 780 Kilometer zurück.

Gewichtig wie die Maschine sind auch die Fragen, die sie beantworten soll: Die mehreren tausend Physiker, die mit dem LHC arbeiten werden, erwarten fundamentale Erkenntnisse zur Dunklen Materie, zum ungelösten Rätsel, wie Materie zu ihrer Masse kommt, und zur Entwicklung des Universums. So ist etwa immer noch rätselhaft, warum im Urknall nicht gleichviel Materie und Antimaterie entstanden sind, die sich gegenseitig wieder vollständig ausgelöscht hätten, ohne Material für Sterne, Planeten und schließlich auch Menschen übrig zu lassen.

«Die Frage ist also letztlich: Warum sind wir überhaupt da? Das ist völlig mysteriös», wie es der Münchner Physikprofessor Siegfried Bethke ausdrückt. «Eigentlich dürfte es uns gar nicht geben. Das ist doch Grund genug, mal nachzuforschen.» Bethke hat mit seiner Gruppe vom Max-Planck-Institut für Physik wesentliche Teile des größten LHC-Detektors ATLAS entwickelt. Die massigen Detektoren in riesigen unterirdischen Hallen - ATLAS ist groß wie ein fünfstöckiges Haus - messen den Partikelhagel, der bei jeder Kollision im LHC entsteht.

Aus diesem Hagel hoffen die Physiker, zahlreiche bislang unentdeckte Elementarteilchen und Hinweise auf neue Naturgesetze zu fischen - etwa das langgesuchte Higgs-Teilchens, das oft als eine Art Heiliger Gral der Teilchenphysik bezeichnet wird. Es soll erklären, warum Teilchen überhaupt eine Masse besitzen. Das Universum ist nach der Theorie des britischen Physikers Peter Higgs von einer Art Sirup durchzogen, der Teilchen je nach ihren Eigenschaften unterschiedlich stark bremst und ihnen so ihre Masse verleiht. Ohne diesen Mechanismus ist das sogenannte Standardmodell vom Aufbau der Materie nicht komplett.

«Die Messungen an bisherigen Beschleunigern zusammen mit der Theorie sagen ganz klar, dass dieses Higgs-Teilchen im Energiebereich des LHC liegen muss», betont der designierte CERN-Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer vom Hamburger Teilchenforschungszentrum DESY (Deutsches Elektronen-Synchrotron). «Das Higgs-Teilchen wird aber sehr wahrscheinlich nicht die erste Entdeckung am LHC sein», meint der US-Physiknobelpreisträger von 2004, David Gross. Nach Schätzungen der beteiligten Teams könne dies leicht fünf Jahre dauern. «Vorher wird es wahrscheinlich andere aufregende Entdeckungen geben, mit denen niemand gerechnet hat.»

So könnte der LHC möglicherweise erstmals Teilchen der rätselhaften Dunklen Materie erzeugen. Dieser unsichtbare Stoff stellt zwar rund 80 Prozent der Masse im Kosmos, verrät sich aber nur über seine Schwerkraft. Aus welchen Teilchen er besteht, ist unbekannt. «Der LHC wird ein Fenster in dieses Dunkle Universum öffnen», hofft der künftige CERN-Chef Heuer. «Das ist natürlich nicht garantiert, aber die Wahrscheinlichkeit, Kandidaten für die Dunkle Materie zu finden, ist relativ groß.»

Für ausgeschlossen halten die Physiker hingegen die wiederholt in die Schlagzeilen geratene Befürchtung, der LHC könnte Schwarze Löcher erzeugen und damit die Erde verschlucken. «Die ganze Diskussion ist völlig albern und absurd», urteilt Gross. Wären die Befürchtungen berechtigt, hätte die Katastrophe längst stattfinden müssen, argumentiert der Physiker: «Die Erde und der Mond sind aber noch da, obwohl es Kollisionen kosmischer Teilchen gibt, die noch viel energiereicher sind.» Das betont auch der zum Jahresende scheidende CERN-Generaldirektor Robert Aymar: «Der LHC ist der stärkste Teilchenbeschleuniger auf der Erde, aber das Universum hat noch viel stärkere. Der LHC wird uns ermöglichen, unter Laborbedingungen zu untersuchen, was die Natur längst macht.»

Von Till Mundzeck, dpa

Hintergrund - Das europäische Teilchenforschungszentrum CERN:
Die populärste Errungenschaft des europäischen Teilchenforschungszentrums CERN bei Genf benutzen heute weltweit nahezu anderthalb Milliarden Menschen: Das World Wide Web ­ 1990 am CERN erfunden, um den Physikern den Datenzugriff zu erleichtern ­ hat sich von den Laboren in der Schweiz in rasender Geschwindigkeit um die Welt gewoben, den Zugang zu Information revolutioniert und neue Wirtschaftszweige entstehen lassen. Dabei ist das «WWW» lediglich eins von vielen Nebenprodukten aus dem 1954 gegründeten Forschungszentrum, an dem bis zu 10 000 Menschen aus rund 80 Nationen arbeiten.

Die Experimente beim CERN haben unser heutiges Verständnis der Welt entscheidend geprägt und auch zahlreiche Alltagsanwendungen hervorgebracht. So sind Detektortechniken der Teilchenphysik in der medizinischen Diagnostik heute weit verbreitet, und auch Teilchenbeschleuniger für die Krebstherapie sind nichts Ungewöhnliches mehr.

Die Arbeit schlägt sich aber nicht nur in Physik und Technik nieder. Die Gründung des CERN («Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire» - europäischer Rat für Kernforschung) galt auch als wichtiger politischer Schritt. Menschen aus verschiedenen Nationen, unter anderem auch aus den damaligen Ostblockstaaten, haben sich dort persönlich kennengelernt und zusammengearbeitet. Wissenschaftliche Zusammenarbeit hat sich als lohnender Schritt auf dem Weg zu politischer Kooperation bewährt. Das gilt bis heute: «Wir haben Wissenschaftler aus Indien und Pakistan, aus arabischen Staaten und Israel und Iran und den USA, die bei uns zusammenarbeiten», betont CERN-Generalsekretär Maximilian Metzger. Die CERNianer sehen sich gern als eine Art kleine Vereinte Nationen.

20 Länder sind inzwischen am weltgrößten Teilchenforschungszentrum beteiligt. Das CERN verfügt in diesem Jahr über ein Budget von 564,7 Millionen Euro. Jeder fünfte Euro kommt aus Deutschland, die Bundesrepublik ist damit der größte Geldgeber.

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