25.04.2022

Strahlungsbelastung rund um Tschernobyl

Erste flächendeckende radiologische Kartierung der Sperrzone seit mehr als dreißig Jahren.

Anlässlich des 36. Jahrestags der Reaktor­katastrophe von Tschernobyl am 26. April hat das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) erste Ergebnisse einer radiologischen Neukartierung der dortigen Sperrzone veröffentlicht. Die zugrunde liegenden Radioaktivitäts­messungen hatte das BfS auf Einladung der Staatlichen Agentur der Ukraine zur Verwaltung der Sperrzone bereits im September 2021 in Zusammenarbeit mit der Bundespolizei und ukrainischen Partner­organisationen durchgeführt. 

Abb.: Diese Übersichtskarte zeigt die Cäsium-137-Belastung der Böden und die...
Abb.: Diese Übersichtskarte zeigt die Cäsium-137-Belastung der Böden und die Gamma-Ortsdosis­leistung innerhalb der Sperrzone. (Bild: BfS)

Zwei Übersichtskarten zeigen die Cäsium-137-Belastung der Böden und die Gamma-Ortsdosis­leistung innerhalb der Sperrzone. Die Ortsdosis­leistung gibt an, wie viel Strahlung von außen auf einen Menschen einwirkt. Erhöhte Ortsdosis­leistungswerte in der Sperrzone gehen heute fast ausschließlich auf Cäsium-137 zurück, das eine Halbwertszeit von 30 Jahren hat. Kurzlebigere radioaktive Stoffe wie Jod-131 sind bereits seit Jahren nicht mehr nachzuweisen. „Mit der Entscheidung, erste Auswertungen von Messdaten aus der Sperrzone von Tschernobyl trotz des Krieges in der Ukraine zu veröffent­lichen, wollen wir die Bedeutung einer engen internationalen Zusammenarbeit im Strahlenschutz unterstreichen“, sagt BfS-Präsidentin Inge Paulini. „Wir setzen damit auch ein Zeichen des Respekts für unsere ukrainischen Kolleginnen und Kollegen, die trotz widrigster Umstände ihre wissen­schaftliche und praktische Arbeit im Strahlenschutz fortsetzen.“

„Die Messungen, auf denen die Karten basieren, wurden im Jahr 2021 in einer beispiel­losen deutsch-ukrainischen Kooperation in der Sperrzone von Tschernobyl erhoben“, sagt Paulini. „Diese gemeinsame wissen­schaftliche Arbeit ist in dieser schwierigen Zeit wichtiger denn je: Sie zeigt Perspektiven für die Zeit des Wiederaufbaus in der Ukraine auf und kann schon jetzt bei der Beantwortung praktischer Fragen des Strahlen­schutzes unterstützen.“ Die Karten und die zugehörigen Messdaten bieten einen umfassenden Überblick über die aktuelle radiologische Situation in der Sperrzone. Mit ihrer Hilfe lässt sich für jeden vermessenen Ort innerhalb der Sperrzone voraus­berechnen, wie lange dort Personal eingesetzt werden kann, ohne einer unzulässigen Strahlenbelastung ausgesetzt zu werden.

Dies ist beispielsweise für die ortsansässige Feuerwehr wichtig, die in der Sperrzone immer wieder Waldbrände zu bekämpfen hat. Das bisher für die Einsatzplanung genutzte Programm kann mit den neuen Messdaten aktualisiert werden. In gleicher Weise können mit den aktuellen Messdaten kriegsbedinge Aufräum­arbeiten wie Munitions­bereinigung unterstützt werden. Da die Karten des BfS die radiologische Situation in der Sperrzone vor dem Krieg zeigen, können sie bei Verdacht auf größere Verlagerungen von radioaktiven Stoffen und konta­miniertem Material – zum Beispiel durch Panzerbewegungen – oder bei Verdacht auf neue Freisetzungen innerhalb der Sperrzone als Vergleich herangezogen werden.

Langfristig können die ukrainischen Strahlenschutz­behörden die Messdaten des BfS als Planungs­grundlage zur Neubewertung der Größe der Sperrzone nutzen. Anhand der Daten kann beurteilt werden, welche Bereiche der Sperrzone möglicherweise wieder für eine Nutzung freigegeben werden können. Voraus­setzungen dafür wären zusätzliche Detailmessungen vor Ort, die eine entsprechende Erst­einschätzung bestätigen. Für die erste flächen­deckende radiologischen Kartierung der Sperrzone von Tschernobyl seit über dreißig Jahren wurden Messungen von Hubschraubern aus durchgeführt. „Wir halten diese Technik vor, um bei einem akuten Unfall schnell die betroffenen Gebiete ermitteln zu können“, erläutert der zuständige Projektleiter im BfS, Christopher Strobl. Dabei arbeitet das BfS eng mit der Bundespolizei zusammen, die die Hubschrauber mit Besatzung zur Verfügung stellt und sich um die fliegerische Vorbereitung und Koordination der Flüge kümmert.

„Bei den Messungen in Tschernobyl standen wir vor einer besonderen Heraus­forderung: Gelangen bei einem Unfall radioaktive Stoffe in die Umwelt, lagern sie sich direkt auf dem Boden ab,“ erklärt Strobl. „35 Jahre nach dem Reaktorunfall von Tscher­nobyl sind die radioaktiven Stoffe aber mehrere Zentimeter tief in den Boden gewandert.“ Damit dieser Umstand die Messergebnisse nicht verfälscht, führten Messteams des BfS zusammen mit ukrainischen Experten an fast zweihundert Punkten zusätzliche Messungen am Boden durch. Außerdem nahmen sie an diesen Punkten Boden­proben, um zu bestimmen, wie tief die radioaktiven Stoffe mittlerweile in den Boden eingedrungen sind. Auf dieser Grundlage ließ sich die Abschirmung der Strahlung durch den Boden aus den Messer­gebnissen herausrechnen. Der Vergleich der boden­gestützten Messungen und mit den Messungen von den Hubschraubern aus zeigte eine gute Übereinstimmung und diente der Qualitätssicherung der Messkampagne.

Die neuen Karten bieten einen Überblick über die gesamte Sperrzone, mit Ausnahme des direkten Umkreises des havarierten Reaktors: Um die kerntechnischen Anlagen in der Sperrzone zu schützen, besteht dort eine Flug­verbotszone, sodass dort keine Hubschrauber­messungen möglich waren. Die Karten sind aktueller und räumlich besser aufgelöst als die bisherigen Gesamt­darstellungen aus den 1990ern. Sie bestätigen die Erkennt­nisse aus den Jahren nach dem Reaktorunglück: Es zeichnen sich deutlich die beiden Haupt-Ausbreitungsrichtungen der 1986 aus dem Reaktor frei­gesetzten Stoffe nach Norden und Westen ab.

Die in der Sperrzone von Tschernobyl ermittelte Gamma-Ortsdosisleistung liegt zwischen 0,06 Mikro­sievert pro Stunde und etwa 100 Mikro­sievert pro Stunde. In Deutschland liegt die natürliche Ortsdosisleistung üblicherweise zwischen 0,06 und 0,2 Mikrosievert pro Stunde. Die niedrigsten in der Sperrzone gemessenen Werte unterscheiden sich damit nicht von der Situation in Deutschland. Hielte man sich in der Sperrzone von Tschernobyl dagegen an den Orten mit den höchsten Werten dauerhaft im Freien auf, wäre bereits nach etwa acht Tagen eine Strahlendosis von zwanzig Milli­sievert erreicht. Das ist die maximale Strahlen­dosis, die Personen in Deutschland im Jahr erhalten dürfen, die beruflich Strahlung ausgesetzt sind.

Die Cäsium-Belastung der Böden in der Sperrzone schwankt zwischen Werten unterhalb der Nachweis­grenze von Messungen aus der Luft und einem Spitzenwert von 50.000 Kilobecquerel pro Quadratmeter. Der höchste Wert, der 2016 mit derselben Messmethode im Bayerischen Wald – einem der in Deutschland am schwersten von dem Reaktorunfall in Tschernobyl betroffenen Gebiete – erhoben wurde, lag bei 24 Kilobec­querel pro Quadratmeter. Das ist knapp über der Nachweisgrenze von Messungen aus der Luft.

„Insgesamt waren an den Messungen in Tschernobyl fast 100 Personen vor Ort und in unserer Datenzentrale im BfS beteiligt“, sagt Strobl und lobt die hervorragende internationale Zusammen­arbeit. Auch für die Bundespolizei waren die Messungen in der Ukraine ein außergewöhnlicher Einsatz: „Die Zusammenarbeit von BfS und Bundespolizei bei Radioaktivitäts­messungen aus der Luft hat eine lange Tradition und wird regelmäßig trainiert“, sagt der zuständige Einsatzleiter der Bundespolizei, Klaus-Jürgen Jess. „In der Sperrzone von Tschernobyl konnten wir erstmals Einsatzerfahrung in einem kontaminierten Gebiet sammeln und unsere Leistungsfähigkeit auch unter diesen Bedingungen zeigen.“

Die veröffent­lichten Übersichts­karten sollen den Auftakt für wissenschaftliche Detailauswertungen und deutsch-ukrainische Publi­kationen bilden. „Während der gemeinsamen Messungen sind intensive persönliche und insti­tutionelle Kontakte gewachsen“, betont Strobl: „Es ist uns wichtig zu zeigen, dass diese Kontakte auch während und nach dem Krieg Bestand haben und dass daraus weitere gemeinsame Projekte erwachsen können.“

BfS / JOL

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