13.04.2012

Wenn Physiker ein Klavier stimmen

Geschichte eines Missverständnisses: Würzburger Physikprofessor findet Entropie-Algorithmus zum Klavierstimmen – und sorgt damit für Unruhe in Musikerkreisen.

Haye Hinrichsen ist Professor am Physikalischen Institut der Universität Würzburg. Und er ist Familienvater. Seine Kinder spielen gerne Klavier, und darum schafft die Familie ein solches Instrument an. Ein Klavierstimmer bringt es zum vollendeten Wohlklang. „Wie Physiker eben sind: Bei dieser Aktion kam ich auf die Idee, einfach mal die Frequenzen des Klaviers auszumessen und mir die Spektren anzusehen“, sagt Hinrichsen. Gleichzeitig befasste er sich theoretisch mit dem Thema „Klavier stimmen“ – und stieß dabei auf physikalische Fragen.

Abb.: Arbeitslosigkeit für Klavierstimmer prognostiziert diese Überschrift der Daily Mail. Schuld daran soll der Würzburger Physikprofessor Haye Hinrichsen sein. (Screenshot: Robert Emmerich)

Klavierstimmer brauchen ein feines Gehör und technisches Können, um ihre Arbeit professionell zu erledigen. Aber es gibt auch einfache elektronische Geräte, mit denen sich Klaviere auf die korrekten Tonfrequenzen bringen lassen: Es sind kleine Kästchen, die man aufs Klavier stellt. Schlägt man eine Saite an, erkennen sie den Ton und zeigen an, ob er zu hoch oder zu niedrig liegt.

Musiker allerdings haben von diesen Kleincomputern keine hohe Meinung: „Klaviere, die mit solchen Geräten gestimmt werden, klingen für das musikalisch geschulte Gehör, als seien sie verstimmt“, erklärt Hinrichsen. Die Ursache dafür: Mit den elektronischen Helfern lassen sich zwar die Grundtöne eines Instruments in Harmonie bringen, nicht aber seine Obertöne. Die aber seien ausschlaggebend dafür, ob der Mensch einen Klang als harmonisch empfindet.

Kurzum: „Bei allem, was sich für uns gut anhört, passen die Obertöne der verschiedenen Grundtöne gut zueinander“, sagt der Würzburger Physiker. Dieser Effekt müsste doch messbar sein, dachte sich der Professor – und zwar mit der physikalischen Größe namens Entropie.

Also begann Hinrichsen, die Töne des vom Experten gestimmten Familienklaviers am Computer zu analysieren. Vereinfacht gesagt, ging er so vor: Er veränderte die Höhe der Töne willkürlich und berechnete dann ihre Entropie. Wurde sie kleiner, bedeutete das „mehr Ordnung“ und damit eine stärkere Harmonie der Obertöne, so die Annahme des Professors.

Am Ende zeigte sich, dass er richtig lag: Nach mehreren Rechendurchgängen war das „virtuelle Klavier“ wieder so gestimmt, wie es der Fachmann im Hause Hinrichsen gemacht hatte. Und der Hausherr hatte einen Algorithmus entwickelt, also eine Rechenmethode, die elektronische Stimmgeräte prinzipiell verbessern könnte.

Öffentlich stellte Hinrichsen seine Methode erst einmal als Randnotiz vor, als Abschluss eines Vortrags in der Reihe „Physik am Samstag“. Später arbeitete er das Kurzreferat aus, für einen längeren Vortrag an der Universidade Federal do Rio Grande do Sul in Brasilien, wo er sich als Austauschdozent aufhielt. Dort kam dann der Herausgeber einer brasilianischen Zeitschrift für Physiklehrer auf ihn zu. Ihn faszinierte das Thema offenbar sehr: Er bot an, ohne große Umstände eine schriftliche Version des Vortrags in der Zeitschrift zu veröffentlichen, und Hinrichsen sagte zu.

„Bei einer wissenschaftlichen Zeitschrift wie Nature hätte ich so eine Arbeit nie eingereicht, dafür ist sie nicht ausgereift genug“, sagt Hinrichsen. Schließlich habe er nur die Töne eines einzigen Klaviers verwendet und die Methode nicht systematisch untersucht. Das aber war den Medien, die Wind von der Sache bekamen, relativ gleichgültig: Sie behandelten das Thema wie ein „hartes“ Forschungsergebnis.

Zuerst griff die „Technology Review“ des Massachusetts Institute of Technology das Thema auf – unter der Überschrift „Algorithmus bedeutet das Ende für professionelle Musikinstrumentenstimmer“. Andere Zeitungen und Fachblätter zogen nach, darunter das Wall Street Journal und die Daily Mail. Die meisten wiederholten die Behauptung, Hinrichsens Arbeit läute den Untergang für den Berufsstand der Klavierstimmer ein.

Kein Wunder, dass die Artikel im Internet zahlreiche Kommentare und Diskussionen nach sich zogen. Bösartige Äußerungen waren natürlich auch darunter, etwa die: „Nur eine Universität voller Schmierer kann so eine ‚Forschung‘ hervorbringen.“ Hinrichsen stieg also in die Diskussionen ein und erklärte seinen Beweggrund. Dass er sich aus rein akademischem Interesse mit dem physikalischen Unterschied zwischen elektronisch und nach Gehör gestimmten Klavieren befasst habe.

Wie es weitergeht? Hinrichsen wird das Thema nicht länger bearbeiten, da es für ihn ohnehin nur eine Spielerei am Rande war. Das eigentliche Forschungsgebiet des Theoretikers ist die Statistische Physik: „Ganz allgemein untersuche ich Vielteilchensysteme, die angetrieben werden, etwa den Ablauf von Wachstumsprozessen beim schichtweisen Aufdampfen von Molekülen für technische Anwendungen.“ Die Entropie von Klaviertönen? Sie wird ihn höchstens noch zu Hause beschäftigen – wenn seine Kinder in die Tasten greifen.

U. Würzburg / PH

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