02.09.2025

Erstmals Quantenfluktuationen in komplexen Molekülen sichtbar gemacht

2-Iodpyridin-Molekül mit intensiven Röntgenlaserpulsen traktiert und per Coulomb-Explosion-Imaging vermessen.

Einem internationalen Team um Rebecca Boll von der Experimentierstation Small Quantum Systems (SQS) des European XFEL in Schenefeld bei Hamburg, Ludger Inhester von DESY und Till Jahnke vom Max-Planck-Institut für Kernphysik, Heidelberg, ist es gelungen, die quantenphysikalischen Nullpunktsfluktuationen eines kompletten Moleküls sichtbar zu machen. Mit einem ausgeklügelten Experiment und einer raffinierten Datenanalyse konnten sie die Quantenfluktuationen des aus elf Atomen bestehenden 2-Iodpyridin-Moleküls (C5H4IN) messen – ein Novum in der molekularen Bildgebung.

Die Forschenden setzten dabei Coulomb-Explosion-Imaging (CEI) ein: Die ultrakurzen und extrem intensiven Röntgenlaserpulse des European XFEL entreißen den Atomen einzelner 2-Iodpyridin-Moleküle schlagartig zahlreiche Elektronen. Die verbleibenden Atomrümpfe werden dadurch positiv geladen. Sie stoßen sich gegenseitig ab und die Atomrümpfe fliegen explosionsartig auseinander. Dennoch können die Forschenden aus den gemessenen Flugrichtungen und -geschwindigkeiten der Fragmente die ursprüngliche Anordnung der Atome rekonstruieren – mehr noch: Auch die winzigen quantenmechanischen Schwankungen können sie damit sichtbar machen.

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Francesco Intravaia, Daniel Reiche und Kurt Busch • 5/2022 • Seite 35

In der Unruhe liegt die Kraft

Das 2-Iodpyridin-Molekül ist ein Kohlenstoffring, in dem ein Stick­stoffatom eingebunden ist. An diesem Pyridin-Ring hängt zudem ein Iod-Atom. Klassisch betrachtet ist das ganze Molekül vollkommen planar – das heißt: Alle Atome des Moleküls befinden sich exakt in einer Ebene. Wäre das Molekül ein klassi­sches Objekt, dann müssten bei einer Coulomb-Explosion alle Atome und Fragmente genau in der Molekülebene davon­fliegen, zumal die For­schenden das Molekül im Grund­zustand untersucht haben. Abwei­chungen durch eventuelle Molekül­schwingungen können daher ausge­schlossen werden.

Trotzdem maß das Team geladene Atome außerhalb der klassisch zu erwartenden Molekülebene. Ihre Messungen deckten sich mit den sehr detail­lierten Simulations­rechnungen, die auch Methoden des Maschi­nellen Lernens umfassten. „In diesen Berechnungen haben wir explizit die Quanten­fluktua­tionen einbeziehen müssen, um die Daten reproduzieren zu können“, sagt Benoît Richard von DESY und der Universität Hamburg.

„Wir konnten überdies die kollektive Natur der Quanten­fluktuationen in den Messdaten sehen.“, sagt Ludger Inhester. „Das heißt: Die Atome im Molekül zittern nicht unabhängig voneinander, sondern bewegen sich in abgestimmten Mustern.“

Aufgenommen wurden die Messdaten von einem Nachweisgerät namens COLTRIMS-Reaktionsmikroskop (REMI) – eines der Nachweisgeräte an der SQS-Experimentierstation, das den Nutzern zur Verfügung gestellt wird. Mit ihm lassen sich viele der Fragmente nachweisen und zugleich räumlich zuordnen.

„Wir hatten bereits 2021 erste Anzeichen für das korrelierte Verhalten der Atome in den Daten gesehen, aber es dauerte eine Weile dies alles wirklich zu verstehen und auch unsere Kollegen von diesem tollen Fund zu überzeugen. Eine Herausforderung war, dass nicht alle Bruchstücke des Moleküls jedes Mal zuverlässig nachgewiesen werden konnten“, sagt Till Jahnke vom Max-Planck-Institut für Kernphysik, Heidel­berg. Dieses Hindernis überwanden die Forschenden, indem sie ein von Richard neu entwickeltes, statistisches Analyseverfahren verwendeten, das selbst aus solchen fragmenta­rischen Daten­sätzen die vollständige Impuls­verteilung des Moleküls rekonstruieren kann. „Zudem lassen die sehr intensiven Röntgenblitze von European XFEL jedes Molekül sehr effizient und auf sehr ähnliche Weise explodieren“, betont Rebecca Boll. „Mit dieser Methode gelang uns die Entschlüsselung des Aufbaus des gesamten Moleküls“, erläutert Robin Santra von DESY und der Universität Hamburg. Zudem konnten die Forschenden eindeutig die „Fingerabdrücke“ der Quantenfluktuationen der Atome nachweisen.

Anders als bildgebende Verfahren wie etwa die Röntgen­kristallo­graphie eröffnet die neue Methode ganz neue Wege in der Erfor­schung komplexer quanten­mecha­nischer Systeme. „Denn das Coulomb-Explosion-Imaging liefert nicht nur gemittelte Werte, sondern zeigt auch, was exakt im einzelnen Molekül passiert“, sagt Boll. „In Zukunft könnten mit dieser Technik noch größere Moleküle untersucht werden und sogar zeitaufgelöste Filme ihrer inneren Bewegungen sind inzwischen möglich“, erklärt Michael Meyer, Leitender Wissen­schaftler der SQS-Experimen­tier­station: „Und das mit einer Zeitauflösung von weniger als einer Femto­sekunde.“ [DESY / dre]

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